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Zwielicht über Westerland

Zwielicht über Westerland

Titel: Zwielicht über Westerland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lindwegen
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eingedrungen? Während sie alle Möglich- und Unmöglichkeiten im Kopf durchging, fingerte sie an dem Gürtel des rosa Bademantels herum, der aus der Hinterbliebenenkiste heraushing.
    Wie von einer plötzlichen Eingebung getrieben, zog sie den Karton heraus und legte den Bademantel auf ihren Schoss. Diverse Duschgele, eine Kulturtasche und ein einzelner Pusche boten ein buntes Stillleben.
    Das Notizbuch war verschwunden.

5. Kapitel
Im Dünengras
    Es war die halbe Stunde des Luftholens.
    Morgens, wenn die Kinder in der Schule, die Einkaufsstraßen noch nicht bevölkert, die Touristen noch im Bett waren, gab es eine halbe Stunde, in der die Insel tief Luft holte. In diese Zeit fiel täglich Sophies Dienstschluss.
    Langsam, denn sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen, fuhr Sophie in die verdiente Nachtwachenfreizeit. Sie hatte sich für jeden der fünf Tage eine Beschäftigung vorgenommen und sich geschworen, stur daran festzuhalten.
    Während andere Nachtschwestern sich auf die Freizeit zwischen den Schichten freuten, tat Sophie sich besonders an den ersten zwei Tagen schwer. Es war jedes Mal wieder ein Fall vom absoluten Gebrauchtwerden in die Leere ihrer Wohnung und ihres Lebens. Auch nach neunzig Jahren hörte sie ihre Mutter dazu sagen: “Kind, du musst unter die Haube, dann bist du über fünf Minuten Ruhe schon glücklich.“
    Ein bittersüßes Lächeln huschte über Sophies Gesicht, während sie mechanisch dem Radfahrweg folgte. Sie wusste, die Ansichten ihrer Mutter waren längst überholt, trotzdem hatte sie irgendwie Recht gehabt. Vielleicht, wenn Alex sie in einem anderen Lebensabschnitt zur Blutsucht gebracht hätte, wäre ihre Sehnsucht nach einer Familie nicht so groß gewesen. Vielleicht war sie aber auch einfach nicht in der Lage, sich in ihr unendlich langes Leben zu fügen.
    Seufzend bog sie um die nächste Ecke. Anja hatte ihr vor zwei Nächten ein Fax für Matt in die Hand gedrückt.
    „Du legst doch bestimmt Wert darauf, es ihm zu geben“, flötete ihre Kollegin und zog dabei die Augenbrauen in die Höhe. „Denk nicht,ich sehe nicht, wie deine Augen leuchten, wenn nur sein Name fällt.“
    „Man darf doch wohl ein wenig schwärmen“, hatte Sophie entrüstet geantwortet.
    Und mehr als Schwärmerei war es ja auch nicht. Eigentlich kannte sie ihn kaum, wurde ihr zerknirscht bewusst.
    Das Fax war an Dr. Matthias Wagner gerichtet. Auf Englisch wurde um einen dringenden Telefontermin gebeten.
    Nachdem sie den offenen Umschlag zugeklebt hatte, ging sie ins Labor. Matt hatte ihn schweigend entgegen genommen. Er schien besorgt und abwesend. Es war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatte. Den Tag darauf war er nicht in der Klinik erschienen.
    Viel war passiert in diesen ersten zehn Tagen in der alten Heimat. Mehr, als in der gesamten vorigen Dekade, dachte sie stirnrunzelnd. Aber deswegen war sie gekommen, um alle Steine ins Rollen zu bringen, um aufzuräumen, mit sich, mit Altlasten, mit allem.
    Bedrückend war allerdings, dass sie sich, seit sie hier war, mehr Menschen bedient hatte als üblich. Die ständige Schlittenfahrt der Gefühle verstärkte die Blutsucht ungemein. Leichte Scham beschlich sie, hatte sie doch gehofft, es würde genau anders herum sein, wenn sie erst einmal zu Hause war. Stress schien sich auf den Drang auszuwirken. War es unter Umständen eine hormonelle Geschichte? Nein, das wäre zu einfach gewesen. In dem Fall wäre es längst aufgeklärt, woher Sucht und ihr Verhalten kamen. Allerdings waren seit Beginn der DNS-Forschung immer wieder Gerüchte um aufgeflogene Blutsüchtige bekannt geworden. Allzu viel konnte man nicht darauf geben, denn hier war die Angst vor Verfolgung der Ursprung. Denn die Gerüchte waren nur in ihrer Welt zu hören, nicht in der normalen Medienwelt. Sicherlich spielte auch die Angst vor Machtverlust eine große Rolle, besonders bei denen der ihren, die hochrangige Persönlichkeiten in Politik und Wirtschaft waren. Sophie hatte Alex versprochen, nach der ersten Schicht anzurufen und Bericht zu erstatten. Lust dazu hatte sie immer noch nicht, aberin Gedanken fügte sie den Punkt zu ihrer Handlungsliste hinzu und wich gerade noch rechtzeitig einem Hundehaufen aus.
    „Schwester Sophie, hey“, rief eine Männerstimme durch den dumpfen Schleier ihrer Gedanken.
    Vor dem kleinen Bäckerladen an der Straßenecke stand an einem der Stehtische Matt und versuchte, eine davonfliegende Papierserviette zu fangen.
    Alles flog davon, jeder trübe Gedanke,

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