Zwielicht über Westerland
jede Sorge, jede Angst. Langsam stieg sie von Rad und ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.
„Hallo“, strahlte sie ihn an, „ bitte rufen Sie mich nicht Schwester. Ich heiße in freier Natur einfach nur Sophie“, lachte sie ihm entgegen und lehnte das rostige Rad an einen kleinen dürren Baum. „Gut, Sophie, willst du mit mir Kaffee trinken?“ Er hob seinen Kaffeepott in die Höhe. „Ich bin Matt und nicht nur hier draußen, okay?“
„Mit viel Milch bitte, und einem Marmeladenbrötchen.“
Er ging in den Bäckerladen, ihr Blick folgte ihm und ihr Herz hüpfte um den Stehtisch. Sie war dem Schicksal oder wem auch immer dankbar für dieses Treffen, das genau im richtigen Moment auf sie zukam. Manchmal war das Leben einfach so überraschend und so schön.
Aus dem Gang neben der Bäckerei kam ein Angestellter und schob eine Mülltonne an die Grenze zum Nachbargrundstück. Es war Kevin, der Sophie so freundlich grüßte, als wenn er sie kennen würde. Sicherlich hatte er sie schon einmal aus dem Haus kommen sehen. Sie nahm sich vor, sich nicht zu oft bei ihm zu bedienen. Wenn sie keinen Drang hatte, konnte sie sich kaum vorstellen, was sie manchmal tat. Zum Glück war er verschwunden, als Matt mit einem Tablett vor ihr stand.
Sie plauderten über seine Heimat, seinen Onkel, dessen Haus und die Insel Sylt. Doch immer, wenn Matt etwas über Sophie wissen wollte, wurde sie vorsichtig. Gerne hätte sie ihm auch alles über ihreArbeit, ihre Familie, ihre Herkunft erzählt, aber wie schnell konnte sie sich verplappern. Sollte er ruhig denken, sie wäre etwas schüchtern. Eine Eigenschaft, die heute allzu oft als Verklemmtheit abgetan wurde, jedoch in der Vergangenheit einmal als vornehme Zurückhaltung galt. Ihresgleichen musste flexibel sein. Sie war geübt in diesen Dingen, aber bei Matt war es etwas anderes. Sie wollte ihn kennen lernen und er sollte sie kennen lernen. So, wie sie war, wie sie eigentlich war. Eine nette, einigermaßen normale, junge Frau. Sie wollte ihn nicht belügen müssen. Es galt zu trennen. Trennen zwischen dem Leben als Blutsüchtige und dem Leben, das sie leben wollte. In dieser halben Stunde an dem wackeligen Stehtisch entschied sie sich dafür, nun endlich einen Wandel zu beginnen. Seine grünen, beim Erzählen leuchtenden Augen taten ihr Möglichstes dazu.
Den Gedanken daran, dass dieses neue Leben niemals länger als eine Dekade dauern würde, schob sie beiseite.
„Schade, dass du aus der Nachtschicht kommst. Ich wollte zur Antennenstation fahren, wo mein Dad früher gearbeitet hat.“ Er fragte wie nebenbei, ob sie ihn begleiten wollte.
Sie hoffte, es würde Richtung Hörnum gehen, was wusste sie von einer verdammten Antenne? Aber da er in Westerland frühstückte, standen die Chancen gut.
„Och, ich bin nicht müde. Der erste Tag nach der Nachtschicht ist immer durcheinander, da bleib ich lieber auf bis zum Abend, um meinen Rhythmus wieder zu bekommen.“ Das war nicht einmal unwahr.
„Ich wollte einen alten Bekannten besuchen. Er arbeitet im Lokal Dünengras, Richtung Hörnum.“ Fragend sah sie in sein Gesicht und entspannte sich sofort, als er schief lächelnd zur Antwort gab:
„Das ist der gleiche Weg. Jetzt müssen nur unsere alten Räder mitmachen.“
Mit offenen Haaren, damit ihre Schultern nicht nur durch ihre dünne Hemdbluse bedeckt waren, fuhr sie neben ihm denRadfahrweg entlang. Ihre Ärmel zog sie über die Hände. Merkwürdigerweise war ihr Kreislauf trotz Schlafmangels und Sonne heute in Ordnung.
Stumm fuhren sie nebeneinander, wiesen sich hin und wieder auf Besonderheiten der Umgebung hin. Einmal berührte sein Oberarm während der Fahrt den ihren. Doch die erwartete Gänsehaut stellte sich nicht ein. Irgendwie fand sie die Schwärmerei jetzt albern. Für Albernheiten war neben ihm kein Platz, so nett und natürlich, wie er war. Sein Interesse an ihr war so unbedarft, das spürte sie. Er interessierte sich dafür, woher sie kam, was sie tat, wohin sie gehen wollte. Welcher Mann tat das schon? Es war wie Tage vorher auf der Auffahrt – sie standen sich gegenüber, auf Augenhöhe. Selbst wenn er ihr erzählt hätte, dass eine Frau mit Kindern auf ihn warten würde, hätte sie sich gefreut, ihn kennengelernt zu haben. Vielleicht würde sie in einer Stunde anders darüber denken, aber jetzt eben nicht.
„Ich brauche eine Stunde, wenn du dann noch hier bist…“, sagte er zum Abschied.
Sie nickte stumm lächelnd und hätte um nichts in der Welt
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