Zwielicht über Westerland
die gemeinsame Rückfahrt versäumt.
Durstig und verschwitzt betrat sie die mit Strandkörben gesäumte Terrasse. Fasziniert erblickte sie einen riesigen Kraken von drei Metern Durchmesser, der mit vielen wunderbaren Details auf den Boden gemalt war. Langsam schritt sie um das außergewöhnliche Kunstwerk herum. In ihrer Zeit in Paris hatte sie zahlreiche Pflastermalereien gesehen, aber dies hier war eine andere Klasse. Es musste unendlich viele Arbeitsstunden gekostet haben. Zwei Pärchen, die an einem der Tische saßen, unterhielten sich angeregt und mit begeisterten Stimmen darüber.
Heute schien alles wie von selbst zu laufen. Genau den Mann, den sie zu treffen gehofft hatte, erschien nach wenigen Minuten an ihrem Tisch und grüßte mit dem Gruß ihres Clans. Er hatte sie also nicht vergessen.
„Heute alleine?“, fragte er, während er einen Stuhl zu ihr unter den Sonnenschirm zog.
„Ja, Alex hat mich nur besucht.“ Und in Gedanken fügte sie „…damit das mal klar ist“ hinzu.
Herr Wunk verstand sofort und lächelte mit aufgeblähten Nasenflügeln. Die hellen wachen Augen des Ende sechzig Jahre alten Mannes schienen überhaupt alles zu sehen. Er erhob sich und verschwand kurz im Innern des kleinen Lokals „Dünengras“.
“Sie sollten mehr auf sich achten“, lächelnd gab er ihr eine Flasche Mineralwasser und eine Tube Sonnencreme.
Dankend nahm sie an.
„Ich hab schon früher mit Ihnen gerechnet, Sophie.“ Das war direkt. Und nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte, trat sie ihm ebenso entgegen.
„Wir kennen uns aus Hamburg, von früher, nicht wahr? Aus meiner ersten Dekade“, flüsterte sie so leise, dass die Pärchen sie nicht hören konnten.
Nach einem Nicken seinerseits fuhr sie fort.
„Wusste ich’s doch. Damals trugen sie Ihre Haare viel kürzer, aber das waren andere Zeiten.“
Abwartend sah sie ihn an und nippte an ihrem Mineralwasser.
Herr Wunk lehnte sich zurück.
„Sie sind sicher gekommen, um mich zu fragen, wer Ihren Bruder zu uns geführt hat.“
Verblüfft sah Sophie über ihr Glas hinweg und nickte.
„Woher wissen Sie das?“
Als er nicht antwortete und stattdessen seine Arme vor der Brust verschränkte, fuhr sie schnell fort.
„Ich möchte einiges klären, jetzt wo ich wieder hier bin. Erzählen Sie mir bitte, was damals so gesprochen wurde, als Jan und ich nach Hamburg kamen? Und sagen Sie nicht, Sie hätten nichts gehört. Wir wissen doch immer alle alles.“ Sie kicherte leise vor Aufregung.
„Ich will ehrlich sein“, flüsterte er. „Alex hat mich gewarnt. Er wusste, dass Sie versuchen würden, dahinter zu kommen. Ich verstehe allerdings nicht, warum Ihnen das so wichtig ist. Jan lebt noch, es geht ihm gut, ist das nicht die Hauptsache? Wir haben unsere Familien verloren. Sie haben wenigstens ihren Bruder.“
In ihrem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Scham und es tat ihm leid; so hart hatte er es nicht sagen wollen. Es war nicht so, dass er nicht wusste, was sie bewegte. Er hatte selber keine Schwierigkeiten mit der Blutsucht und seinem jetzigen Sein. Er hatte aber auch ein normales Menschenleben fast zu Ende leben können. Trotz seiner fast zweihundert Jahre erinnerte er sich gut an seine Jugendjahre. Die Kraft und der Wille, Dinge zu bewegen. Der Unmut, Traditionen nur um ihretwillen zu akzeptieren. Der Mut, mit dem man allem Neuen entgegen ging. Wenn er in dieser Phase in die erste Dekade gekommen wäre, wäre ihm ähnlich zumute, wie diesem jungen Menschen hier, da war er sich sicher. Warum sorgte sich Alexander um sie? Um sie zu schützen oder um sich zu schützen? Letztendlich war es egal. Er hatte ein Versprechen gegeben.
Sophie rieb sich nervös die Arme mit Sonnenschutz ein und suchte nach den richtigen Worten.
„Damals ist alles aus dem Ruder geraten. Bis heute kann ich es nicht verstehen. Mir fehlt so viel in meiner Erinnerung. Ich möchte nur die Lücken füllen, möchte begreifen, möchte vertrauen. Vielleicht kann ich mich dann besser einfügen. Es geht mir nicht um Rache oder Vergeltung.“ Sie war etwas zu laut geworden.
„Ich verstehe und ich glaube Ihnen. Alex hat allerdings meinen uneingeschränkten Respekt und er vertraut mir.“ Nachdenklich kratzte er sich am grauen Borstenhaarschnitt.
Alex versuchte stets, seine Clanmitglieder in Schach zu halten. Zuckerbrot und Peitsche war sein Prinzip und es funktionierte. Trotzdem sah Sophie Wunks Mauer langsam bröckeln.
„Auf keinen Fall möchte ich Sie in Bedrängnis
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