Zwielicht über Westerland
Hand die Toilettentür und ließ Tim etwas ungeschickt auf den Boden gleiten. Im Vorraum des Toilettenraumes stand für alle Fälle immer ein Rollstuhl bereit.
Der Schweiß rann ihr von der Stirn, als sie nach dem vierten Versuch endlich den schlaffen Tim in das Transportmittel gehoben hatte.
Nervös schaute sie auf den Gang hinaus und schob dann eilig mit ihm in Richtung Sauna davon, in deren Ruheraum zwölf Kunststoffliegen standen. Eine davon wurde Tims Aufwachlager.
„Anja, du verpennst deinen Feierabend“, lachte Sophie etwas zu laut und war gerade noch rechtzeitig zu deren Erwachen zurück.
„Ich bin so müde“, nuschelte diese und versuchte sich aufzurappeln. Nach einem großen Glas Wasser ging es ihr besser und mit einem Kopfschütteln über sich selbst verließ sie die Klinik.
Auf dem Bildschirm der Parkplatzüberwachung sah Sophie sie in ein Auto steigen und davonfahren.
Erleichterung machte sich in ihr breit und stöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufblickte, stand Matt mit einer Thermoskanne da und schaute sie fragend an.
„Alles klar mit Ihnen?“, fragte er mit einem bohrenden Blick aus seinen grünen Augen.
Außer einem stummen Nicken brachte Sophie nichts zustande. In dieser Nacht ging wirklich alles Schlag auf Schlag.
Anscheinend gab er sich damit zufrieden, denn er lächelte wie gewohnt und hielt die Kanne höher.
„Wollen wir uns einen Tee kochen“, fragte er, wobei er das Wort Tee englisch aussprach.
„Wir haben gerade etwas Sensationelles entdeckt, das muss gegossen werden“, verkündete er in feierlichem Ton, als sie die Tür zur Küche aufschlossen.
„Begossen. Aber egal. Wieso sprechen Sie überhaupt so perfekt Deutsch?“ Zum Glück hatte sie ihre Sprache doch nicht verloren.
Er erzählte von seinem amerikanischen Vater, der hier auf Sylt stationiert war und eine Sylterin geheiratet hatte. Sie war die Schwester des Professors. Nach Ende seiner Dienstzeit auf Sylt waren seine Eltern in die USA zurück gekehrt. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass ihre Kinder mit ihr Deutsch sprechen.
Es war einfach himmlisch seine Stimme zu hören.
Sophie setzte sich auf einen der Hocker und beobachtete ihn, wie er routiniert den Tee aufsetzte. Er hatte hübsche Hände, keine Bürohände, normale gepflegte Hände. Ob er eigentlich wusste, wie wunderbar seine Stimme klang, fragte sich Sophie. Seine Haare hatten angefangen sich zu kringeln, wahrscheinlich von der feuchten Hitze. Seine Wimpern sahen von der Seite noch dunkler und irgendwie zart aus. Stundenlang hätte sie einfach nur dasitzen und ihn anstarren können. Nur ansehen und nicht beißen, nur ansehen.
„Von wo kommen Sie eigentlich?“, fragte er sie nun und riss sie damit aus ihren Fantasien.
Statt einer Antwort schaute sie auf die Uhr und nahm drei Becher aus dem Schrank für das Küchenpersonal.
Mit der gefüllten Teekanne gingen sie zurück zur Rezeption.
„Kommen Sie doch mit zu uns ins Labor, Schwester Sophie“, forderte er sie am Tresen angelangt auf. Sein Blick war wie vor vier Tagen am Grundstück ihrer Eltern: offen, freundlich, vielleicht neugierig, aber nicht fordernd.
„Ja, ja, ja!“, hätte sie am liebsten gerufen, aber an seinem Arm vorbei sah sie am Ende des Ganges eine lange Gestalt auf sie zutorkeln.
„Ich muss noch arbeiten. Gerne ein andermal“, antwortete sie und hörte dabei ihr Herz springen.
Matt war bereits verschwunden, als Tim sie erreichte.
„Sach ma, wie spät ist es? Ich muss voll eingepennt sein im Ruheraum. Was wollte ich bloß da?“ Er rieb sich mit einer Hand den Nacken und hielt sich mit der anderen am Türpfosten fest.
„Komm, geh nach Hause“, drängte Sophie ihn zur Tür.
Tim aber wollte noch reden, über Blumen und sonstige wichtige Dinge, für die sie nicht den Kopf hatte. Nach einer Stunde überzeugte sie ihn davon, dass er weniger feiern sollte an den freien Tagen, dann würden ihn solche plötzlichen Schlafübermannungen nicht wieder heimsuchen. Mit Charme und Bestimmtheit schob sie ihn durch die Tür in die Nacht.
In diesem Moment kamen Matt und der Professor um die Ecke, trugen sich aus der Liste aus und kamen zum Ausgang. Der Professor verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken. Matt gab ihr ein Augenzwinkern und wünschte ihr eine ruhige Nacht. Aus der nächtlichen Teestunde war also nichts geworden.
Was für eine Nacht. Stöhnend ließ Sophie sich auf den Stuhl fallen, auf dem Anja gesessen hatte.
Wer war hier
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