Zwielicht über Westerland
sie die Kühle des Lakens auf ihrerHaut. Das letzte bisschen Wachsein brachte einen Satz in ihr müdes Bewusstsein. Sie riss die Augen wieder auf.
„Och, wir rauchen manchmal eine zusammen, wenn sie das Brot bei uns abholt“, hallten Kevins Worte in ihrem Brummschädel wider. Das Notizbuch!
-Treffen mit M.-, -Brot holen-
Plötzlich war sie wieder hellwach.
6. Kapitel
Der Beißring
Nur ihr Gesicht und ihre nackten Schultern waren zu sehen, den Rest bedeckte das Meer. Entrückt der Blick, fast kindlich verträumt. Der Mund rot und zu einem sanften Lächeln geformt. Lange feuerrote Locken fielen über ihre linke Schulter und endeten in den Wellen. Dort, wo das Feuer in das Wasser eintauchte, färbte sich die Oberfläche dunkelrot, bis diese schließlich in einer schnörkeligen Handschrift endete. Zwei Wörter mit einer eindeutigen Nachricht: Nur Du.
Jeder Besucher, jeder Patient, Arzt, Angestellter, das gesamte Hauspersonal, sie alle mussten es sehen. Es war direkt vor die Eingangstür auf den Boden gemalt worden. Niemand traute sich, die Liebeserklärung zu betreten. Wie eine Botschaft aus einer vergangenen Zeit lag sie da. Zart, schön, vergänglich. Aber vielleicht war es gerade das, was alle so berührte. Denn jeder, der einmal geliebt hatte, wusste, dass die Liebe selbst ebenso war.
Auch Sophie bewegte das Bild, von dem sie sofort wusste, wer es gemalt hatte. Die altmodische, aber schöne Art zu malen, das Motiv, wie aus einem Kinderbuch der Jahrhundertwende. Sie fand es überdies sehr poetisch, wie er seine Liebe erklärte. Die Liebste als Nixe, als ein Wesen, das es wohl kaum zu geben schien. Welches aber ihren eigenen Lebensraum hatte und jederzeit dorthin abtauchen konnte. Seht her, so ist sie und so geht es mir, schien Gregor zu sagen. Feuer und Wasser. Keine Email, keine SMS – nein, ein Herz aus Kreidestaub.
Wer die Angebetete war, wussten alle. Auch Sophie hatte sie gleich nach Schichtbeginn erkannt. Die Nixe war Anna Liebner, 18 Jahre alt, aus der 125 und Mukoviszidose-Patientin. Ihre langen rotenHaare reichten ihr bis auf die mageren Hüften. Sie trug ein viel zu großes Nachthemd mit einem Tetraeder darauf, als sie sie das erste Mal sah.
„Oh, Sie habe ich heute schon einmal gesehen, als ich zur Tür herein kam“, rutschte es Sophie heraus, bevor ihr klar wurde, dass die junge Frau dies wahrscheinlich den ganzen Tag schon hören musste.
Anna jedoch strahlte über ihr ganzes Gesicht und plauderte fröhlich drauf los.
„Ist es nicht wunderbar? Er ist so romantisch. Ich würde auch gerne etwas Tolles für ihn tun, etwas ganz Besonderes.“
Ihre Augen leuchteten, während sie sich den Blutdruck messen ließ.
„Das kann ich gut verstehen, aber strahlen Sie ihn so an, wie Sie es jetzt tun, das wird ihm sicherlich reichen.“ Und nachdem sie sich kurz auf ihre Uhr konzentriert hatte, fügte sie hinzu: „Und grüßen Sie Gregor von mir. Mein Name ist Sophie.“
„Kennen Sie ihn?“ Verwundert sah sie zu ihr auf.
„Nur flüchtig. Sylt ist ein Dorf.“
Verlegen schaute Anna auf ihre mintfarbenen Plüschpuschen.
„Er wollte mich heute noch besuchen, ich meine, vielleicht“, druckste sie herum.
„Anna, ich bekomm richtig Ärger, wenn ich das mitmache. Besuch darf ich nicht in die Zimmer herauf lassen.“ Sie kam sich wie eine Gouvernante vor, zumal die junge Frau optisch nicht viel jünger als sie selber war.
Das Strahlen verschwand schlagartig.
„’Schuldigung, ich will ja nicht, dass Sie rausfliegen“, flüsterte sie und schaute weiterhin auf ihre Hausschuhe.
Wahrscheinlich hatte sie einen großen Teil ihres Lebens in Kliniken verbracht. Ein extrem eingeschränktes und noch so junges Leben, ging es Sophie durch den Kopf. Es war das andere Extrem, zu wissen, dass man für nichts mehr genug Zeit hatte. Ein Schmerz ging ihr durch den Brustkorb. Schnell ermahnte sie sich zur Professionalität, aber es war bereits zu spät.
„Zum Glück brauche ich die Balkone nicht zu kontrollieren. Alles klar?“, zwinkerte sie Anna zu und ging aus dem Zimmer.
Anschließend besuchte sie den kräftigen Herren aus der 101, der ebenfalls schon in Nachtwäsche war, was das Freilegen seines Halses erheblich vereinfachte.
Danach ging es ihr viel besser, die Ungeduld bei Dienstantritt war verschwunden.
Ja, sie war froh, wieder hier zu sein. Die Tage zu Hause waren nett gewesen und sie war nur einmal in die Situation geraten, Kevin zu behelligen, aber hier war es besser.
Von Matt hatte sie nichts
Weitere Kostenlose Bücher