Zwielicht über Westerland
trug die gleiche Kleidung wie am Vortag.
„Du siehst schlecht aus, ich meine müde“, verbesserte sie sich.
„Dito, meine Beste. War noch was los? Ich hab die ganze Nacht auf einen Anruf von dir gewartet.“
„Anna hat komplett durchgeschlafen. Schlafen ist gut für sie. Ich war bei ihr. Alles ruhig.“
Sie schämte sich ein wenig, weil es wieder eine ihrer schlechten Lösungen war. Reden ohne Lügen, aber auch nur die halbe Wahrheit sagen. Gregor jedoch schien es zu beruhigen, denn er lehnte sich in den Fahrersitz zurück und fuhr etwas weniger ruckartig. Seine Kaumuskeln mahlten kaum sichtbar, aber kontinuierlich.
„Du hast nur noch zwei Nächte vor deinem nächsten Frei, oder? Was mach ich denn dann? Mich ruft doch keiner an und hält mich auf dem Laufenden.“ Ein kurzer verzweifelter Blick traf sie.
Vor ihrem Haus parkte er ein und würgte den Wagen dabei ab.
„Du kommst jetzt erst mal mit zu mir hoch, dann sehen wir weiter“, befahl sie sanft.
Eine Stunde später saß Sophie neben Gregor und betrachtete ihn, wie in der Nacht zuvor Anna. Er schlief auf ihrem Sofa. Sie deckte ihn mit einer zweiten Decke zu und beobachtete den sich hebenden und senkenden Brustkorb. Annas Problem konnte zwar gelöst werden, das war klar, aber um welchen Preis? Warum musste sie auch gerade diese Krankheit haben? Warum sie und warum gerade diese? Was Gregor an Leben zu viel hatte, hatte Anna zu wenig. Und an Lebenslust? Sophie wusste es nicht.
Natürlich hatte er daran gedacht, sie zu retten, wie er es nannte. Aber wollte Anna gerettet werden? Letztendlich bekam sie nur eine neue Krankheit in Sophies Augen. Eine kinderlose, zeitlose Lebenszeit, voll von Abschieden, von Überwindungen. Sie glaubte nicht daran, dass Anna dies wollte. Anna hatte selber gesagt, dass sie nur eins wollte, einfach nur normal leben und denken können. Als Blutsüchtige war das niemals möglich. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden: Gregor musste sie fragen. Auf keinen Fall durfte er es ohne ihre Erlaubnis tun, solange sie bei Bewusstsein war.
Doch wie würde sie reagieren? Mit Angst, mit Abscheu? Oder mit Verletzlichkeit, weil er sie bis dato nicht eingeweiht hatte, kein Vertrauen hatte? Was würde sie überhaupt glauben können? Vielleicht würde sie sich verschaukelt vorkommen, ihn verachtendeswegen? Wie viel würde ihre junge Beziehung aushalten können? So einfach wie heiraten und scheiden lassen war es nicht.
Er hatte gebeichtet, dass er bereits einmal drauf und dran gewesen war, Anna zu holen. Ohne ihr Einverständnis, aber dann waren ihm Bedenken gekommen.
Würde Anna ihn anschließend noch lieben?
Sophie wusste nicht, ob er es wirklich ernst gemeint hatte, als er sie fragte, ob sie im Notfall den Schritt gehen wollte. Vorausgesetzt natürlich, sie hatte Dienst. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie wusste es selber nicht und hoffte, nicht in die Situation zu kommen. Bei dem Gedanken daran war sie fast froh, bald dienstfrei zu haben. Woraufhin sie sich aber umgehend und im Stillen als feige beschimpfte. Wenn sie es tun würde, dann für Gregor, nicht für Anna. War es anmaßend, so zu urteilen? Viele Blutsüchtige hatten Ärzte oder Pflegepersonal als Paten. Sophie war noch nie Pate gewesen und wollte es auch nicht sein. Würde sie es für Matt tun? Hatte Alex sich damals Gedanken gemacht, als er sie geholt hatte? Ja, sie war sich sicher, dass er sich Gedanken gemacht hatte. Allerdings vermutete sie, dass diese nicht ganz uneigennützig gewesen waren. War der Pate von Jan niemals aufgetaucht, weil er die Verantwortung nicht tragen konnte? 4
Letztendlich, so vermutete sie, war es doch Alex gewesen, denn er hatte ohne weiteres die Stelle eingenommen. Irgendwann würde sie es herausbekommen.
Beklommen ging sie in ihr Schlafzimmer und warf noch einen Blick auf ihr belegtes Sofa. Gregor war verzweifelt und sie verstand ihn, aber sie traute nicht ganz seinen Worten. Vielleicht hatte er sich längst entschieden. Sie war sich sogar ziemlich sicher, je mehr sie darüber nachdachte.
Heute war einer der seltenen Tage, an denen sie eine Schulter zum Anlehnen gebraucht hätte. Die Zeiten, in denen befreundete Männer ihr Sofa zierten, mussten sich ändern.
Es dauerte lange, bis sie unter dem Federbett warm wurde. Eine Hand lag auf der Postkarte unter dem Kopfkissen, als sie einschlief. Manchmal war der Schlaf gnädig, tröstend und befreiend. Manchmal war er nur eine unlenkbare Fortsetzung des vermurksten Tages davor.
Und so war sie
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