Zwielicht über Westerland
nach der zweiten Episode eines unglaublich verzwickten und bescheuerten Traumes viel zu früh wach geworden.
Gregor war bereits verschwunden und hatte nichts außer zwei zerwühlten Wolldecken hinterlassen.
Am Abend im Dienst war sie langsam und müde. Sie schloss für einen Moment die brennenden Augen und erwachte wenig später mit einem Zucken, welches durch ihren ganzen Körper ging. Im Traum war sie gefallen. Eilig sah sie auf die Uhr um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nur kurz eingenickt war. Die Uhr an der Rezeption tickte laut und gleichmäßig durch die leere Halle. Es war ihr lange nicht mehr passiert, dass sie während des Dienstes eingeschlafen war. Von der Leitung war es ausdrücklich erlaubt, da sie sowieso nur den Bereitschaftstarif zahlten, aber sie konnte mit dem Bett hinter der Schiebetür des Rezeptionszimmers einfach nicht warm werden. Die Schwestern nannten ihn Schlafschrank. Außerdem konnte sie am Tag schlafen, es wartete ja niemand. Bei Roswitha, ihrer Kollegin, war es anders, sie musste jede Nacht wenigstens ein paar Stunden schlafen, weil schon gegen Mittag das erste ihrer Kinder aus der Schule kam. Wie es wohl war, eine Familie zu haben? Es war unsinnig, darüber nachzudenken, sie würde nie Kinder haben können. Oder wie Jan - wer sonst - immer sagte: Ein Mahlzeit wird nicht schmackhafter, wenn man sie mehrmals isst. Traurig dachte sie an Vanessa und daran, dass die Zeit nicht alle Wunden heilen konnte.
In der Halle lagen noch einige Zeitungen, welche die letzten Patienten nicht weggeräumt hatten. Es gehörte zwar nicht zu ihren Aufgaben, bot aber eine gute Gelegenheit, um auf andere Gedankenzu kommen. Also fing sie an, die Kissen der Sofas aufzuschütteln und ein wenig aufzuräumen.
Was die Ärztin sagen würde, wenn sie nach Anna sehen würde, wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Gregor war jetzt bereits seit einer Stunde oben. Er hatte sich nicht abhalten lassen. Wenn er nicht gleich weg war, würde sie ihn rausschmeißen müssen. Nach einer weiteren Viertelstunde entschloss sie sich, die beiden zu trennen. Die Gefahr, von der Ärztin erwischt zu werden, war einfach zu groß. Gerade als sie die nur angelehnte Tür aufstoßen wollte, sah sie durch den Türspalt, wie Gregor sich über Anna beugte. Eine Sekunde lang, befürchtete sie, er habe Anna überführt, doch dann erkannte sie, dass er sie nur zärtlich geweckt hatte. Sophie nahm die Hand von der Türklinke und wollte ihnen noch ein paar Minuten des Abschiedes gönnen, doch die Frage, die Gregor seiner Freundin stellte, ließ sie stocken. Er hatte sie gefragt, was sie tun würde, wenn er ein Mittel wüsste, dass sie heilen würde. Sie hatte nur gelächelt und ihm geantwortet, dass er sie bereits von so vielen Dingen geheilt hatte. Eine Gänsehaut lief über Sophies Arme und sie wusste, dass dies der Moment sein sollte, irgendetwas zu tun, aber sie stand fasziniert da und lauschte.
„Nur mal angenommen…“, beharrte er, „so etwas wie ein Jungbrunnen, der dich heilt und auf ewig gesund und jung bleiben lässt. Wir könnten endlos zusammen sein. Nur deine Freunde und Verwandten müsstest du nach und nach alle verlieren. Würdest du es trotzdem wollen?“
„Du stellst komische Fragen, hast du jetzt Fieber?“ Sie versuchte sich aufzusetzen.
„Nein, im Ernst.“
„Muss ich dich denn nicht begraben?“
Er antwortete nicht und wartete sichtlich auf eine Antwort.
„Puh, also wenn ich mich entscheiden müsste“, sie trank einen kleinen Schluck Wasser, „dann würde ich lieber nicht alle überleben, auch nicht an deiner Seite.“
Gregor schien ein wenig verletzt, wollte sich aber noch nicht geschlagen geben.
„Warum nicht? Wir könnten nach Ägypten reisen, das wolltest du doch immer. Oder den Hund kaufen, den du mir letztens gezeigt hast.“
Sie hob müde die Hand und er verstummte.
„Bitte, Bärchen, ich hab mich damit abgefunden. Nun rüttel nicht daran. Ich werde kürzer leben als andere, ich erlebe aber auch alle guten Dinge viel intensiver dafür. So wie das mit uns.“ Sie streckte ihre Hand nach der seinen aus.
„Lass uns nicht mehr davon reden. Ich bin so müde. So wie es ist, ist es doch gut. Wenn ich nicht krank wäre, wäre ich niemals nach Sylt gekommen. Ich wäre nach Ägypten geflogen und hätte dich nie kennen gelernt. Das wäre doch traurig, oder?“
In ihr Kissen kuschelnd, schloss sie die Augen und schlief kurz darauf ein. Er saß noch eine Weile da und betrachtete sie. Wie sollte er
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