Zwielicht über Westerland
gaben, das ihr vollkommen fremd war. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, zu schweigen und ihn nicht mit ihren alten Geschichten zu belasten, erzählte sie ihm wenig später vor dem Kamin vom Streit mit ihrem Bruder. Selbstverständlich nur in abgeänderter Form, doch ging es um Schuld, Reue und Vergebung, letztendlich um Liebe. Was zählten da Raum und Zeit.
Matt hörte ihr aufmerksam zu, wärmte ihre Hände und warf ab und an ein Scheit Holz nach. Am Ende ihrer Erzählung stellte er ihr die Frage:
„Denkst du nicht, dass dein Bruder seither genug durchgemacht hat? Es müssen doch so ungefähr zehn Jahre sein, die er das Geheimnis mit sich herum getragen hat?“
Sophie stellte ihre Tasse auf den Beistelltisch und nickte.
„Ja, stimmt. Bis heute hat er geschwiegen. Er hat sich einen tollen Zeitpunkt für die Wahrheit ausgesucht.“
Matt lächelte. „Der Zeitpunkt war immer verkehrt, sonst wäre er sicher schon eher zu dir gekommen. Hängst du sehr an deinem Bruder oder willst du ihn, nach deinen Eltern, auch noch verlieren?“ Erschrocken schüttelte sie den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“
Er reichte ihr de Telefonhörer und ermunterte sie: „Gut, dann ruf ihn an und sag es ihm. Wenn du dich jetzt zurückziehst, bevor er abreist, wirst du einen neuen Zeitpunkt suchen müssen, der auch immer der falsche sein wird.“
Dankbar küsste sie seine Nasenspitze und wählte Jans Handynummer. Sie tat genau das, was Matt ihr geraten hatte. Ohne sich selbst etwas vorzumachen, indem sie sich erlaubte, vernünftig zu sein und alles zu bedenken. Oder zu glauben, dass die Zeit auf ihrer Seite war und die schlimmsten Wunden heilte. Das alles waren oft nur Ausreden gewesen, um sich selber zu schonen, sich Zeit zu verschaffen und sich aus der Verantwortung zu stehlen. Wenn sie mit den alten Gewohnheiten und der Lebensweise des Clans brechen wollte, gehörte dies auch dazu.
An der Art wie Jan ihr antwortete, hörte sie heraus, dass alles gut war zwischen ihnen. Mit wenigen Worten verabredeten sie sich für den nächsten Tag im Hotel Maris zum Abschiedsessen. Nur sie beide, ohne Alex, ohne Matt. Als sie auflegte, verspürte sie ein Gefühl der Erleichterung, aber auch der Dankbarkeit. Wofür konnte sie nicht sagen.
Mit drei großen Fotoalben auf dem Schoß hatte Matt in dem Ohrensessel am Fenster Platz genommen. Sophie ging zu ihm hinüber und setzte sich auf die Armlehne. Lachend deutete er auf ein Foto, das an den Rändern einen ungesunden Orangeton angenommen hatte. Es zeigte einen vielleicht vierzehn Jahre alten Jungen am Westerländer Strand. Alles an ihm schien in die Länge gezogen zu sein. Sein Grinsen, seine Gliedmaßen, seine Haare. Neben ihm kniete ein etwas jüngeres Mädchen und baute eine Sandburg.
„Das bin ich mit meiner Schwester Susan. Ich würde mich freuen, wenn du sie irgendwann kennenlernen würdest. Sie wird dir gefallen, sie ärgert mich, wo sie kann. Heute noch.“
Es stand im Raum. Sie waren gerade einmal zwei Tage zusammen und er hatte etwas angesprochen, was bedeutender war, als er vermutete.
Hatte er noch vor kurzem seinen Abschied von der Insel angekündigt, sprach er heute von der Zukunft. Das hieß, sie würden einander nicht vollkommen verlieren.
„Super, ich verbünde mich dann mit ihr und wir necken dich gemeinsam.“ Sie schlang die Arme um ihn.
„Gut, ich frage schon mal in der Klinik, ob sie dich bis April freistellen.“ Matt grinste sein schiefes Grinsen und blätterte weiter. Nicht zu allen Fotos konnte er etwas sagen, denn die Alben gehörten ja seinem Onkel, aber es war auch so sehr interessant, in der Zeit zurück zu wandern. Sophie arbeitete in der kommenden Stunde einige der verlorenen Jahre fern ihrer Heimat auf. Sie bekam Fotos zu sehen, auf denen die Luxusautos noch durch die Friedrichstraße kurven durften. Den ersten Schnellimbiss in derselben Straße und schließlich Bilder vom Richtfest des Hauses, das auf dem Grundstück ihrer Eltern gebaut worden war. Vorsichtig erkundigte Sophie sich nach dem Kauf des Geländes. Matt konnte ihr lediglich sagen, dass es brach gelegen hatte, weil die Erben als vermisst galten und der Zweite Weltkrieg alles zum Erliegen gebracht hatte. Erst danach bot die Gemeinde das Grundstück zum Verkauf an.
Es war sonderbar für sie, aus Matts Mund Dinge über ihre eigene Vergangenheit zu hören. Sie legte sich flach auf das Sofa und schloss die Augen. Der leichte Schwindel, der ihr in den letzten Tagen oft zu schaffen gemacht hatte,
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