Zwielicht über Westerland
fegte wie eine Nordseeböe durch sie hindurch. Sie sorgte sich nicht, gleich würde es wieder vergehen. Erklären hätte sie es nicht können, dieses merkwürdige Gefühl. Es war, als wenn sie an einem Tag den Anschluss an ihre Familie, ihre Vergangenheit und ihre Heimat wieder gefunden hatte. Und als Sahnehäubchen war ihr Matt präsentiert worden und die gemeinsame Zukunft. Welcher jungen Frau wäre da nicht schwindelig?
„Erzähl mir von dem Urlaub bei deinem Onkel. Wie war es in dem Sommer hier, damals?“
Und er erzählte, während sie da lag und seiner Stimme lauschte. Im Kamin knackte leise das Holz, als sie einschlief. Der Kreis hatte sich endlich geschlossen und ihr war es in diesem Moment nicht einmal klar geworden.
Als Matt sie gegen Mitternacht zärtlich weckte, verrieten seine Küsse, dass er nun lange genug auf sie gewartet hatte. Sie gingen nach oben in das kleine Schlafzimmer. Vom Bett aus konnten sie den wunderbarsten Sternenhimmel sehen, der Sophie jemals begegnet war. Alles war plötzlich so einfach.
Erst als der kleine Radiowecker ihnen gegen Mittag leise Weihnachtsmusik vorspielte, erwachten sie. Es war wieder keine Zeit für ein Frühstück. Doch Matt versprach, den Service zu verbessern, während er sie zum Hotel fuhr.
Das Hotel Maris stammte noch aus Sophies Kindertagen. Wie eine riesige Festung hatte es den Salzluft-, Wetter- und Modeangriffen der letzten hundert Jahre getrotzt. Sophie legte eine Hand auf die Gründerzeitfassade und erinnerte sich an Botengänge für den Doktor, die sie hierher erledigt hatte.
„Wir beiden alten Dinosaurierdamen“, flüsterte sie lächelnd und trat ein.
Jan grüßte keinen Clangruß, sondern umarmte sie lange und wiegte dabei leicht hin und her. Es war wie ein Zeichen von ihm. Heute waren sie nur Jan und Sophie, die Geschwister. Sie war ihm dankbar dafür. Sie sprachen nicht über den gestrigen Tag. Es war alles darüber gesagt. Jan erzählte ihr von Vanessa, deren Wunden vollständig verheilt waren und die ein wenig das Heimweh nach Sylt und nach Sophie quälte. Gregor hatte seinen Höhenflug noch nicht überstanden und schien Vanni mit seinem Gerede von Anna und der neuen Arbeit auf die Nerven zu gehen. Sie freuten sich riesig auf Jans Ankunft am nächsten Tag.
„Was wirst du tun, wenn ich weg bin?“ fragte er.
„Was ich sonst auch getan habe. Ich werde arbeiten, alte Dinge sammeln, Kevin besuchen oder ins Kino gehen. Vielleicht geh ich auch mal zum Treffen des Beißrings, beziehungsweise seines kläglichen Restes. Ich komm schon klar.“
Jan legte das Besteck beiseite.
„Du weißt, du brauchst mich nur anrufen, wenn du in Schwierigkeiten steckst. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, dich jetzt allein zu lassen.“
Sie lächelte ihn an, denn bislang hatte sie nie Schwierigkeiten gehabt. Er dafür umso mehr.
„Ich habe seit gestern viel darüber nachgedacht, was richtig und was falsch ist. Ich glaube, wir wissen meist erst hinterher wirklich, was wir hätten tun sollen. Mach dir keine Sorgen und grüß die beiden anderen. Ich würde mich freuen, wenn wir uns im Sommer alle auf Sylt treffen könnten. Wenn nicht diesen, dann nächsten. Wir haben ja so viel Zeit.“
Sie kicherten wie die Kinder, die sie einst waren. Jan nahm ihre Hand.
„Es tut mir leid, dass ich das über Matt gesagt habe. Ich glaube, er ist ein feiner Kerl. Solange er die Finger von Vanni lässt“, lachte er. Sophie nickte. Er ließ ihre Hand wieder los und wurde ernst.
„Tu mir zum Abschied nur einen Gefallen. Bitte geh nach oben zu Alex, Zimmer 67, und verabschiede dich von ihm. Auch für ihn war das alles aufregend. Wir werden in einer halben Stunde abfahren. Er nimmt mich bis Hamburg mit. Er ist nicht so übel, wie du immer denkst. “
Seufzend entgegnete sie: “Wer ist das schon. Aber ich mach es dir zuliebe. Dann ruf du bitte Matt an, er möchte mich in 15 Minuten hier abholen.“
Sie drückten sich noch einmal und Sophie war unendlich glücklich darüber. Auf der mit dickem Teppich belegten Treppe in den zweiten Stock steigend, dachte sie an die Worte ihres Vaters: „Ihr beide müsst euch gut vertragen. Von allen Menschen, die euch in eurem Leben begegnen werden, müsst ihr es am längsten miteinander aushalten. Und ihr wollt doch gut miteinander sein, oder?“
Sie klopfte an die Zimmertür mit der goldenen 67, die sich kurz darauf öffnete. Alex sah so gut aus wie immer, gut rasiert, gutfrisiert, gut gekleidet. Nur in sein Inneres ließ er nicht blicken,
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