Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
mit unverminderter Geschwindigkeit über die Kreuzung. Zu seiner Rechten lag hinter einem verrosteten, quietschenden Tor eine dunkle Gasse.
»Ist da jemand?« Einen Augenblick hielt er die Luft an, sein Herz hämmerte laut dröhnend in seinem Kopf. Nichts. Er musste nachsehen, aber er wünschte, er hätte eine Waffe mitgenommen. Das Gerede von den gefräßigen Dämonen machte ihn nervös.
Adam tastete sich in der Dunkelheit voran. »Hallo?«
»Leise«, zischte jemand.
Langsam gewöhnten sich Adams Augen an die Dunkelheit; sie wandelte sich in ein dichtes Grau. Eine junge, schmutzige Frau saß zusammengesunken zwischen dem Müll auf dem Boden der Gasse. Ihr weißes Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen.
Zwei Monate hatte er nach ihr gesucht, hatte auf Bildern ihr Gesicht studiert, damit er sie sogleich erkannte, wenn er sie fand. Ihm war jede Linie ihres Gesichtes vertraut. Es gab kein Vertun. Diese schräg stehenden glasartigen Augen. Der Schwung ihres Kinns. Die gerade, schmale Nase. Das war Talia O’Brien.
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Das Monster glitt vorwärts und war mit einem Schritt bei seiner Beute, einem Mann, der die Gasse hinunterschlich, um ihr zu helfen.
Der gute Samariter würde sterben. Seit Melanies Tod hatte Talia das mehrfach miterleben müssen: diese unmenschliche Kraft, diese gemeinen Zähne, der Kuss. Dann das finstere, widerliche Ziehen, wenn das Monster dem Menschen den Lebensgeist herausriss.
Sie durfte das nicht zulassen, vor allem nicht jetzt, wo alles zu Ende ging.
In Talia regte sich etwas, aber nicht etwa ihr lethargischer Körper, sondern etwas tiefer in ihrem Inneren. Mit letzter Kraft warf sie einen rettenden Schleier aus, mit dem sie die Gestalt des Mannes verhüllte und ihn so vor dem Monster verbarg. Sie schützte ihn mit ihrem Umhang.
Ihre Schatten umfingen ihn, und sie erkannte seine Gestalt. Dunkle, kurz geschnittene Haare. Wache helle Augen in einem hageren Gesicht. Gut trainierter Körper, groß und kräftig. Flacher Bauch, lässige Hose mit Gürtel. Das Polohemd saß perfekt über dem muskulösen Brustkorb und seinen Schultern.
Außerdem konnte sie tief unter ihren Schleiern in das Innere des Mannes sehen. Er leuchtete von innen heraus. Vor Entschlossenheit und Willenskraft. Das Licht erfüllte jede Zelle seines Körpers mit pulsierendem Leben und intelligenter Kraft.
Mit Geist . In Talia erwachte Ehrfurcht und schnürte ihr die Kehle zu. Er war so schön. Zu schön, um von dem grauenhaften Wesen verschlungen zu werden.
Talia schluckte schwer und wagte einen neuen Versuch. » Bitte , seien Sie still.«
»Talia O’Brien?«
Die Verzweiflung schnürte ihr die Luft ab. Wenn er nicht mithalf, konnte sie ihn nicht retten. Ihre Schatten allein reichten nicht.
Talia konzentrierte sich auf ihren Körper. Sie legte die Hände flach auf den Asphalt und stemmte sich hoch. Ihr war schwindelig; die Welt schwankte gefährlich aus ihrer Achse. Sie stellte einen Fuß auf, holte tief Luft, schüttelte sich und stürzte sich nach vorn.
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Adam versuchte es noch einmal. »Talia?«
Er trat vor und streckte in einer universell verständlichen Friedensgeste die Arme zur Seite aus. Er wollte sie nicht ängstigen.
Talia stürzte aus der Hocke nach vorn. Noch bevor er vor Überraschung nach Luft schnappen konnte, hielt sie ihm mit ihrer heißen Hand den Mund zu.
»Sie müssen jetzt still sein.« Ihre Stimme klang rau und eindringlich, war kaum zu verstehen.
Wieder versank die Gasse in Dunkelheit. Er blinzelte heftig, aber sein Blick wurde nicht klarer. Er konnte nichts erkennen. Seine Sinneswahrnehmung schien plötzlich eingeschränkt, nur den Druck ihrer Hand auf seinem Mund spürte er deutlich.
Sie drängte sich gegen ihn, und er ließ sich von ihr zurückstoßen. Er stolperte über den Müll in der Gasse, worauf seltsam verzerrt ein metallisches Geräusch ertönte. Dann stieß er gegen eine harte Fläche, die Mauer eines Gebäudes. Er hob das Kinn, um sich vorsichtig und ohne Gewalt von ihr zu lösen. Aber sie hielt ihn weiter fest und presste die Hand auf seinen Mund.
Ganz in der Nähe hallten Schritte auf dem Asphalt. Ein oder zwei Leute kamen auf sie zu. Noch ein Schritt, schwer, mit einem Echo. Vermutlich war es doch nur eine Person. Wahrscheinlich ein Mann.
Adam legte den Arm um Talias Taille. Nur ganz leicht und sanft berührte er ihren Rücken. Sie war klein und viel zu dünn. Die Hitze ihres Körpers strahlte so intensiv durch ihre Kleidung, als würde er einen Lichtstrahl halten. Sie
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