Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
Überlebenschancen ihrer kleinen Tochter um drei Prozent. Das hatten die Ärzte gesagt.
Maggie schluckte schwer und errötete, nickte jedoch und blinzelte die Tränen weg. »Okay. Mach dir keine Sorgen. Das Baby geht vor. Wie besprochen.« Sie wischte sich über die Wange. »Ich werde da sein. Das schwöre ich dir. Ich weiche nicht von deiner Seite.«
»Von der Seite des Babys«, korrigierte Kathleen und brachte ein Lächeln zustande. Flatternd schlossen sich ihre Lider. Nachdem sie Maggies Versprechen bekommen hatte, fiel es ihr schwer, sich wachzuhalten, und der Schlaf übermannte sie.
»Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass auch du es schaffst«, erklärte Maggs. Ihre Stimme begleitete Kathleen, die weiterhin fest ihre Hand hielt, in den Schlaf.
Fliegen. Ihr Lieblingstraum.
Kathleen streifte die obersten Baumwipfel – höher! – , flog schwungvoll über die östliche Klippe von Sugarloaf Mountain hinweg und wendete über einer bilderbuchähnlichen Landschaft, die wie ein Flickenteppich wirkte. Die Luft roch intensiv nach Sommer. Kopfüber stürzte sie sich in das strahlende Blau und ergötzte sich an der Farbe, bis ihr Herz überlief.
Ihr schwindelte etwas, und sie lenkte den Blick nach unten auf die Klippen, auf denen sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie gepicknickt hatte. Erstaunlich klar tauchte aus ihren dunklen Erinnerungen eine Szene auf. Üppige, dunkelgrüne Bäume. Kreischende Insekten. Grasflächen mit großen weißen Felsen. Steinige, mit Wurzeln überwachsene Wege, die in unterschiedliche Richtungen führten.
Mom richtete das Mittagessen an und wedelte neugierige Bienen fort, während Dad das überflüssige Wasser aus dem Kühler entsorgte. Ihre Schwester Maggie schob sich langsam an die steile Klippe heran und schrie in Richtung Wald: »Kathleen! Ich kann unser Haus sehen!«
Auf einmal veränderte sich der Traum, und die siebenjährige Kathleen lief barfuß in den hohen Bergwald. Trockene Blätter knisterten unter ihren Füßen. Als sie tiefer in die Blut- und Weißeichen hineingeriet, umfing sie feuchtkühle, wohlriechende Luft. Ihr Herz raste, vor ihren Augen tanzten Sterne, doch sie scherte sich nicht darum. Die Bäume funkelten, knarrten und wogten. Wie verzaubert.
»Geh von der Kante weg, Maggie«, rief Dad irgendwo hinter ihr.
Kathleen beschleunigte ihre Schritte und setzte ihren Weg über die Baumwurzeln fort. Wenn Mom oder Dad sie entdeckten, musste sie zurückgehen. Sich hinsetzen. Ausruhen.
Sie hatte genug vom Ausruhen. Von neuen Therapien für ihr Herz. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler, für den es eindrucksvolle Bezeichnungen gab, die sie sich nicht merken wollte. Doch was er bedeutete, das wusste sie: Sie würde vermutlich nicht das Erwachsenenalter erreichen.
Es war viel schöner, durch die Wälder zu streifen als gelangweilt herumzusitzen. Dazu blieb ihr noch reichlich Zeit. Später. Dies war ihre Chance. Wie weit würde sie kommen, bis sie ihr folgten?
Die Aufregung raubte ihr den Atem, ihr Herz begehrte auf, dann beruhigte es sich. Endlich ein Abenteuer!
Die Luft um sie herum flirrte. Die einst grauschwarzen Schatten schillerten violett und blau. Die märchenhaften Farben zogen sie in ihren Bann.
Ich bin eine Prinzessin, verloren in einem Zauberwald.
Sie stolperte über eine Baumwurzel. Wieder rebellierte ihr Herz, schlug heftig. Sie musste auf ihren Atem achten, aber sie würde nicht zurückgehen. Noch nicht.
Eine blecherne Melodie wie die aus ihrer Schmuckschatulle sickerte durch die Bäume. Es war dieses Lied von Disney, das ihr so gut gefiel. Ihre Mom sagte, es sei von Tschaikowski.
Die Melodie kam von … dort.
Sie wich vom Weg ab und lief über den unebenen, laubbedeckten Boden. Aus dem Augenwinkel nahm sie seltsame Gestalten wahr, die zwischen den Baumstämmen hervorlugten. Auf einmal fiel ihr das Atmen leichter. Die Luft fühlte sich besser an und wirkte berauschend.
Sie hob den Rock ihres goldenen, mit Juwelen besetzten Kleides. Auf dem Kopf trug sie eine Tiara mit funkelnden Diamanten.
Sie lief immer tiefer in das hübsche Violett hinein. Ihr Herz schlug kräftig. Hier würde sie ihrem Prinzen begegnen.
Wie die glänzenden Flügel schwarzer Krähen breiteten sich die Schatten zwischen den dunklen Bäumen aus. Und da stand er: Mit seinen seidigen langen schwarzen Haaren, das markante Gesicht mit den tiefschwarzen Augen wirkte ernst. Er war groß und deutlich muskulöser als ihr Dad, doch sie fürchtete sich nicht vor ihm. Ihr ganzes
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