Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
seine Hände und strich mit dem Daumen über ihre Lippen. »Das ist der Gang der drei Welten.«
Kathleen schüttelte den Kopf. »Schon als ich noch ein Kind war, sollte ich sterben. Und jetzt habe ich sogar mein eigenes Kind geboren«, entgegnete sie. »Deshalb glaube ich, dass ich auch das schaffen kann. Wir brauchen einen Plan.«
»Ich liebe dich so sehr.« Mit sehnsuchtsvollem Blick betrachtete er ihr Gesicht.
»Erstens: Du siehst nach unserem Mädchen. Pass auf sie auf. Das ist das Wichtigste.«
Als sie diese Worte aussprach, empfand sie erneut heftigen Schmerz.
Er legte eine Hand auf ihre Brust, als könne er so ihr Leid lindern. »Ja. Wie könnte ich anders?«
Von allen Seiten ertönte feenhaftes Flüstern. Die Magie im Raum verstärkte sich. Kathleen spürte, wie der Schattenmann seinen Umhang um sie legte. Gemeinsam wandten sie sich dem dunklen Gang zu, dem Tunnel in die Ewigkeit. In der Ferne glomm ein heller Funken. Das Leben nach dem Tod.
Kathleen machte sich bereit. »Ich werde einen Weg finden, zu euch beiden zurückzukehren.«
1
28 Jahre später
Das Feuer blendete den Schattenmann. Scharfer Rauch versengte seine Nase, seinen Hals und seine Lungen. Die Arbeit hinterließ Blasen auf seiner Haut, die Muskeln in Nacken und Schultern verkrampften sich. Doch egal, Kathleen durchlitt viel Schlimmeres.
Wie war es möglich, dass von allen Sterblichen ausgerechnet sie für die Hölle bestimmt war?
Mit aller Kraft donnerte er den Hammer auf den Amboss, der unter der Wucht des Aufpralls sang. Der hohe, durchdringende Ton hallte durch die niedrige Lagerhalle in den Docks von New Jersey. Von dem großen Eisenklotz stoben weiße Funken in die Luft und verglühten in den Tiefen der magischen Schatten, die um ihn wüteten.
Er dachte an einen Augenblick jener schicksalhaften Begegnung, die alles verändert hatte: Kathleen hatte ironisch gelacht und mit ihrer sanften Stimme gesagt:»Dass du Angst vor mir haben könntest, ist eine originelle Vorstellung.«
Ja, das war originell. Angst . Dennoch war er fast jeden Tag ihres Lebens bei ihr gewesen. Ihr schwaches Herz hatte den Schleier zwischen Leben und Tod hauchdünn werden lassen.
Es hatte ganz harmlos begonnen – Kathleens golden strahlende Kinderseele hatte die Neugierde zahlreicher Todesboten geweckt. Auch seine, des Dunkelsten von allen. Sie fragten sich, wie ihre Seele trotz ihres schwachen Herzens so hell leuchten konnte. Ein Augenblick in ihrer Nähe hatte genügt, und ihre Wärme hatte den Tod fasziniert.
Er hatte zugesehen, wie sie aufwuchs, kämpfte und weinte und mit zusammengebissenen Zähnen ihren Herzschlag bezwang.
Und trotz dieses ständigen Kampfes schienen ihre Träume lebendiger und bewusster als bei den meisten anderen Menschen, die Ausflüge in die Zwielichtlande unternahmen. In ihren Träumen weihte sie ihn in ihre wohl durchdachten, überaus wagemutigen Pläne ein. Sie war die Meisterin des Schwertes, die mit ihm gemeinsam das Böse bezwang, ohne dabei jemals nach Luft zu ringen.
Wenn sie unter Albträumen aus dem Schattenreich litt, sorgte er für Frieden. In seiner Anwesenheit tat ihr niemand etwas zuleide.
Zuerst wünschte sie sich ein magisches Heilmittel aus Sternen und Feenstaub, doch keine Märchengestalt konnte einen Menschen heilen, nicht einmal er. Später ruhte all ihre Hoffnung auf einem attraktiven Arzt, der Wunder versprach, sie jedoch nicht vollbrachte. Und so ging die Zeit ins Land.
Schließlich, an einem düsteren hoffnungslosen Tag, blickte Kathleen zum Schattenreich hinüber. Ihre Augen verrieten, dass sie um ihr Schicksal wusste. Ihr Blick fiel auf den Tod, den Schattenmann ihrer Kindheit, der sie noch immer von der anderen Seite des Schleiers aus beobachtete. Sie beeindruckte ihn mehr denn je.
Der Tod fürchtete sich vor einer Sterblichen. Doch er hatte alles für sie riskiert und würde es jetzt noch einmal tun. Der Schattenmann erinnerte sich an den Klang ihrer Stimme, ihren leicht amüsierten Ton, und hob erneut den Hammer. Hochkonzentriert versetzte er dem Schattenreich erneut einen heftigen Schlag. Das Eisen verformte sich zu einer Spitze.
Ich wünschte, wir könnten uns unterhalten , hatte sie gesagt, während sie an ihrem Gemälde arbeitete. Die Kunst spendete ihr Trost, und was sollte sie anderes malen als die Zwielichtlande, die märchenhafte Welt auf der anderen Seite der Schatten. Ihr blasses Gesicht hatte in dem fahlen Lichtschein des Schlafzimmers geleuchtet, ihre warme Stimme in der Dunkelheit
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