Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
einen Tisch gefesselt und rang nicht nach Luft.
Jemand hielt sie.
Die Arme des Schattenmanns schlossen sich fester um sie. Zum zweiten Mal in ihrem Leben umarmte er sie, berührte ihre Haut. Seine Haare fielen auf ihre Schulter. Sein warmer Atem strich über ihren Hals.
Die jetzige Situation war die Folge ihrer ersten Begegnung. Um nur ein einziges Mal mit ihr zusammen zu sein, hatte er damals gegen die Gesetze verstoßen und war in ihre Welt gekommen. Um sie zu berühren. Sie hatten Zeit gestohlen, dem Schicksal die Stirn geboten und ein neues Leben geschaffen. Sie bereute es nicht. Auch jetzt nicht.
Den Wald der Zwielichtlande hinter sich, blickte Kathleen durch den dichter werdenden Schleier auf die Welt. Ihr sterblicher Körper lag auf dem OP -Tisch, die glasigen Augen blickten ins Leere. Ein Arzt machte sich an ihrem Bauch zu schaffen. Seine Hand verschwand in ihrem Körper.
» … Herzstillstand … «
»Kathy!«
Vorsichtig hob der Arzt eine kleine Gestalt aus ihrer Gebärmutter. Das Baby passte in eine Hand. Seine Haut schimmerte bläulich und war von einer weißen Substanz überzogen. Aus dem zerknautschten, aber wunderhübschen Gesicht tauchte eine kleine rosa Zunge auf.
Ihr Baby. Ihre Liebe. Talia .
Wie Galle drängte ein Klagelaut ihre Kehle hinauf. Sie streckte die Arme nach ihrem Kind aus. Es war so klein! Kathleen kratzte mit den Fingerspitzen an der Welt der Sterblichen.
Doch der Schattenmann presste sie fest an seinen Körper und flüsterte in ihr Ohr: »Vergib mir.«
»Ich will sie halten. Bitte!« Die Trennung von ihrem Kind erfüllte ihre gesamte Brust mit Schmerz. Ihre Nerven schrien auf. In ihrem Inneren loderten Flammen, während ihre Haut erkaltete. Ihr das Kind zu entreißen, schien schmerzhafter als jeder Herzanfall. Keine Verletzung, keine Krankheit konnte schrecklicher sein als diese brennende Sehnsucht.
»Ich kann nicht. Das weißt du«, raunte er.
Wie konnte er nur so grausam sein? Schützte ihn das kühle Blut des Todesboten vor Schmerzen? Es war genauso sein Kind.
Mit bitteren Vorwürfen auf der Zunge drehte sich Kathleen zu dem Tod herum. Der Schattenmann blickte mit trauriger Miene zu ihr hinab.
»Sie wird es schaffen«, sagte er. »Sie ist sehr klein, aber sie besitzt eine starke Lebenslinie.«
»Ich will sie. Sie gehört mir . Lass mich gehen«, flehte Kathleen. Doch der Tod hielt die Schatten bereits seit ihrer Geburt zurück. Ihr war stets bewusst gewesen, dass sie die Grenze eines Tages überschreiten musste und dass die Schwangerschaft den Schleier endgültig zerteilen würde. Für diesen Augenblick hatte sie gekämpft.
Kathleen fuhr herum und betrachtete die zurückweichende Welt. Maggie stand neben der Schwester und passte auf, während diese dem Baby Schleim aus der Nase saugte, ihm Blut abnahm und es in einen Brutkasten legte. Ihre Schwester blickte sich mit aschfahlem Gesicht und müdem Blick noch einmal zu dem Geschehen auf dem OP -Tisch um, folgte jedoch dem Kind aus dem Raum.
»Die Kleine ist stark«, sagte der Schattenmann. »Wie ihre Mutter.«
Wenn er sie nicht festgehalten hätte, wäre Kathleen auf dem Boden zusammengesackt. »Ich will sie kennenlernen. Ich will bei ihr sein. Das ist nicht fair!«
Unkontrolliert zitternd klammerte sie sich an seine Arme.
Als der Schattenmann schwieg, kam Kathleen ein neuer schrecklicher Gedanke. Sie erstarrte. »Ist sie wie du? Oder wie ich?«
Die Todesboten waren an die Zwischenwelt gebunden, die Zwielichtlande, das Schattenreich. Sie konnten weder auf der Erde existieren noch, wie die Menschen, ins Jenseits weiterreisen.
»Sie ist beides. Ein Mischling. Unsere Tochter steht mit je einem Fuß in beiden Welten. Niemand weiß, was aus ihr wird.«
»Dann habe ich sie vielleicht ganz verloren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und wenn ich hinübergehe, verliere ich dann auch dich?«
Sein Schweigen genügte als Antwort.
Schmerz wandelte sich in Wut und verlieh ihr Kraft. »Nein. Auf keinen Fall. Ich will mit euch beiden zusammen sein.«
»Ich habe dich gewarnt.« Er drückte sein Gesicht in ihr Haar, und sie ahnte, dass er sich alles genau einprägen wollte, bevor sie ins Jenseits hinüberglitt. Die Bäume bildeten bereits einen dunklen Tunnel um sie herum. Ihnen blieb nur noch ein kurzer Augenblick.
»Das werde ich nicht akzeptieren.«
Er lächelte traurig. »Deine Willenskraft hat mich immer beeindruckt.«
»Ich lasse nicht zu, dass das geschieht.«
»Es ist schon geschehen.« Behutsam nahm er ihr Gesicht in
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