Zwielichtlande: Schattenmann (German Edition)
widergehallt.
Was sollte schon passieren, wenn er sich mit ihr unterhielt? Sie würde die Sterbliche Welt ohnehin in Kürze verlassen. Wieso sollte er die Grenze nicht vor ihr überschreiten? Sich ihr zeigen, damit sie ihn sehen konnte, solange es möglich war? Das Schattenreich war so kühl, und Kathleen strahlte so viel Wärme aus. Wie sie sich wohl anfühlte? Nur einmal.
Der Schattenmann drehte den Hammer in seiner Hand, um mit der schmalen Seite die dekorative Spitze des Speers zu formen. Er bildete eine der vertikalen Verstrebungen des schmiedeeisernen Tores, an dem er arbeitete, und sollte genauso brutal und grausam wirken wie der Ort, zu dem das Tor Zugang gewähren würde.
Bitte berühre mich. Ich möchte etwas fühlen, solange ich noch kann , hatte sie gesagt.
Und so war er unerlaubt über die Grenze getreten und hatte damit gegen ein Naturgesetz verstoßen. Für Kathleen.
Wenn der Tod die Menschen heimsuchte, sahen sie in ihm einen Ghul, einen Priester oder Dämon. Kathleen hatte aus ihm den dunklen Prinzen ihrer Märchen gemacht. Dabei wusste sie, wer er eigentlich war – der grausame Sensenmann. Bis in alle Ewigkeit bestand seine Aufgabe darin, die Seelen der Toten durch die Zwielichtlande ins Jenseits zu begleiten. Obwohl sie sich gegen die unvermeidliche Reise wehrte, hatte sie ihn gebeten, näher zu treten und ihn umarmt. Über die Schatten hatte er ihre Gefühle wahrgenommen. Ihre Entschlossenheit war eine Offenbarung gewesen. Ihre Berührung hatte ihn verändert, hatte alles verändert.
Er umklammerte den hölzernen Schaft des Hammers, spürte jedoch noch immer das seidige Gefühl ihrer weichen sterblichen Haut an seinen Händen, von ihrer schmalen Taille bis zu ihren vollen Brüsten. Mit dem Daumen strich er über die Mulde an ihrem Hals, dann berührte er sie mit seinen Lippen. Sie bog sich ihm entgegen, und zwischen ihnen loderte eine Flamme, ein ewiges Feuer, das viel heißer war als die sengende Hitze des Schmiedeofens. Seine Sinne, die an den Tod gewöhnt waren, hatten ihren heftigen Herzschlag gespürt. Daran erinnerte er sich jetzt und nutzte den leidenschaftlichen Rhythmus, um das glühende Eisen zu schmieden.
Sie hatten ein Kind gezeugt. Talia war inzwischen eine erwachsene Frau und hatte ihre eigene Familie. Der Mann an ihrer Seite passte gut auf sie auf. Bei dem Kampf gegen eine grausame Geisterplage hatte sie ihre Feenkräfte entdeckt.
Blieb noch der zweite Teil von Kathleens letztem Wunsch – einen Weg zurückzufinden, um mit ihnen beiden zusammen zu sein.
Der Tod prüfte mit einer Hand die Oberfläche des Metalls, bemerkte eine leichte Verdickung und hob erneut den Hammer. Er holte tief Luft, sammelte seine gesamte Willenskraft, konzentrierte sich auf den Gegenstand, bis er vor Kraft zitterte, und schlug zu.
Die Schatten wogten.
Plötzlich überfiel ihn ein Gefühl der Schwäche.
Der Hammer entglitt seiner Hand und fiel krachend auf den Boden.
Vor Schreck keuchend betrachtete der Schattenmann den Hammer. Es kostete ihn schon reichlich Anstrengung, menschliche Gestalt anzunehmen und diese zu halten. Doch den Hammer zu greifen, diesen Hammer, erforderte seine gesamte Kraft, seinen ganzen Willen und seine Erinnerung. Das Werkzeug stammte von Engeln, weshalb Schattenwesen es kaum berühren konnten.
Kathleen!
Beim letzten Mal hatte er Stunden gebraucht, um den Hammer aufzuheben. Am Ende war das Feuer erloschen gewesen. Er schluckte rauchige Luft und zerrte brüllend an dem schweren Werkzeug.
»Tut mir leid«, sagte eine Stimme.
Der Todesbote hob den Kopf, fuhr herum und fand sich Custo gegenüber, jenem Engel, der ihm den verdammten Hammer überhaupt gegeben hatte. Custo schien immer da zu sein, wenn der Tod ihn brauchte, aber vor allem dann, wenn er ihn nicht brauchte. So wie jetzt. Unter Custos olivefarbener Haut pulsierten Schatten durch seine Adern. Das bedeutete, dass der Engel die Zwielichtlande passieren und an jeden Ort auf der Welt gelangen konnte, auch in dieses Lagerhaus. Sein engelhaftes Strahlen hatte die Todesschatten zurückgedrängt, und der Schattenmann musste den Hammer fallen lassen.
Er spürte den gleichmäßigen Schlag des sterblichen Herzens im Körper des Engels. Zu spät. Verflucht, dieser Junge. Was wollte er?
Der Schattenmann zerrte an den Schatten, die wie Sturmwolken um den Engel schwebten. Augenblicklich verrieten sie ihm Custos Gefühle: Die Neugierde überwog, kontrastiert von großer Beherrschung und einer persönlichen Überzeugung;
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