Zwielichtlande
Dunkelheit. Und Annabella war darin gefangen.
Sehr schlau.
Aber Custo war schlauer als der Wolf: Er kannte den Unterschied zwischen Giselle, dem Charakter aus dem Ballett, und Annabella, der Erzählerin, die die Magie spann.
»Du hast bereits mit Albrecht getanzt, Annabella«, sagte Custo. »Was geschieht als Nächstes?«
Kein Wunder, dass die Fee Annabella unbedingt loswerden wollte. Deren Macht war mehr als beachtlich, sie war beängstigend.
»Was geschieht als Nächstes, Annabella? Erzähl die Geschichte.«
– erkommt, erkommt, erkommt –
Annabella hob den Kopf und lauschte auf die morgendlichen Glocken, die laut durch den immer dunklen Wald hallten.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Custo ersparte sich den Blick über seine Schulter, sein Körper war voller Hoffnung, selbst als er hörte, wie der Wolf über die Lichtung preschte.
»So ist es gut, Liebes«, ermunterte er sie, und seine Augen füllten sich vor Stolz mit Tränen. »Erzähl uns die Geschichte, Bella. Lass die Sonne aufgehen.«
20
Der Boden unter Annabellas Füßen bebte, in ihrem Kopf hallten laute Glockenschläge. Sie klammerte sich mit aller Macht an das Geräusch, verband ihr Herz mit der Geschichte und keuchte, während sie die Sonne, diesen strahlenden Himmelskörper, am Horizont aufgehen ließ.
Erzähl uns die Geschichte. Lass die Sonne aufgehen.
Der Himmel färbte sich rosa, die wie Diamanten funkelnden Sterne verblassten. Plötzlich peitschte ein heftiger Sturm durch den Schattenwald und fegte die Blätter von den Bäumen, sodass es aussah, als würden Skelette aus der bebenden Erde wachsen. Überall ertönte lautes Wehklagen, die dunklen Einwohner fürchteten sich vor dem Licht.
Annabella klammerte sich an Custos starke Schultern, damit sich seine Kraft auf sie übertrug, suchte Zuversicht in seinen Augen und trieb die heiße Kugel weiter nach oben. Es war Morgen im Schattenreich. Die Erlösung.
Wie ein Fleck, der das aufkommende Blau beschmutzte, sprang der Wolf hinter Custo hervor. Seine Wut ließ die Luft so stark knistern, dass sich die feinen Härchen auf Annabellas Haut aufrichteten.
Der Boden wankte, wölbte sich unter ihren Füßen und bot keinen Halt mehr. Das Schattenreich verstieß sie.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Die drei fielen zurück auf die Erde und wirbelten durch die Luft in den offenen Lagerraum von Segue. Custo griff die Schnauze des Wolfs.
Der Beton war brutal hart, aber Annabella rollte sich augenblicklich auf ihre Füße – das bisschen Schmerz machte ihr nichts aus – und warf sich auf die riesige schwarze Bestie, die mit Custo kämpfte.
Sie schlang einen Arm um den Nacken des Tieres und zerrte mit aller Kraft das Maul von Custos Hals. Sie ritt auf dem Rücken des Wolfs, packte sein raues Fell und riss ihn zurück. Der Wolf roch wie ein Hund, finster und animalisch und ein bisschen faulig.
»Lauf, Annabella«, stieß Custo mit rotem Gesicht hervor und zitterte vor Anstrengung, während er versuchte, den irren Wolf zu bändigen.
»Nein«, presste sie hervor und klammerte sich mit den Schenkeln auf dem Rücken des Wolfes fest. Dank Gott für die Pliés.
Ein Schrei ertönte, und sie wandte den Blick zur Tür. Sie duckte den Kopf gerade noch rechtzeitig, als ein Soldat auf den Wolf schoss und ihn zwischen den Augen traf. Adam musste auf diesen Fall vorbereitet gewesen sein.
Hinter ihm tauchten weitere Männer im Eingang auf, richteten ihre Waffen auf das Tier und waren bereit zu schießen. Custo streckte ihnen eine Hand entgegen. Der Soldat eilte herbei, um ihm ein gefährliches Messer zu reichen.
Das ihm der Wolf sogleich aus der Hand schlug.
Annabella griff nach dem Messer und schnitt sich mit der scharfen Klinge in die Finger, bevor sie mit ihrer feuchten Hand den Griff zu fassen bekam. Sie stach, so gut sie konnte, in seine Schulter. Das Messer stieß auf Knochen, rutschte zur Seite weg und schabte über die Haut des Wolfs, ohne noch einmal hineinzuschneiden; heiße rote Flüssigkeit strömte über Annabellas Arm, kühlte ab und löste sich in Schatten auf.
Der Wolf bockte und schleuderte sie in eines von Kathleens Bildern, der Rahmen brach, und die Leinwand riss. Annabella sah Sterne. Ein Soldat beugte sich zu ihr hinunter, griff ihren Arm und zerrte sie aus der Gefahrenzone. Er brachte sie an einer Reihe Soldaten vorbei in den Betonbunker und legte sie auf den Boden.
Der Soldat, ein Mann mit einem kantigen Gesicht und eng stehenden Augen, fragte: »Ist das Ihr
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