Zwielichtlande
Schattenreich folgte kein Brennen. Custo spürte, wie sein Blut herabtropfte. Er riss einen unförmigen Streifen Stoff aus seinem Hemd und band die Hand fest ab, um die Blutung zu stoppen. Doch dafür blieb keine Zeit. Annabella befand sich in der Nähe.
Custo lief auf die Musik zu. Als er eine Bewegung aufblitzen sah, verlangsamte er seinen Schritt und schlich vorsichtig weiter, um sich in einem dunklen Wäldchen zu verstecken und zu beobachten, wie Annabella mit … Jasper tanzte? Die blonden Haare, die lächerlichen Strumpfhosen und das fast weibliche Hemd gehörten Jasper. Custo konnte sein Gesicht nicht sehen, vermutete aber, dass es die hübschen Gesichtszüge des Jungen trug.
Die Lüge ließ sich leicht durchschauen, doch Annabella schien ihr verfallen zu sein. Der Mann, das Wesen, das sie hielt, konnte nur der Wolf sein. Seine Hände waren überall auf ihrem Körper, er hob Annabella hoch, drehte und umarmte sie. Der Wolf hatte sie gerade wieder abgesetzt, als er den Kopf neigte und Witterung aufnahm. Er hielt Annabella an der Hüfte fest, hob jedoch die Nase und witterte erneut. Er war abgelenkt. Er roch etwas.
– Blut, Blut, Blut, Blut, Blut –
Custo blickte auf seinen Verband und erinnerte sich, wie die Fee ihn mit ihren Fingerspitzen verletzt hatte. Sie hatte ihm geholfen, so gut sie konnte. Sie wollte, dass Annabella verschwand .
Custo presste die Wunde an seinen Körper, damit der Wolf an ihm vorbei in Richtung des blutdurchtränkten Waldbodens lief. Mit einem großen Sprung verwandelte sich Jasper in ein geiferndes Tier mit gelben Augen auf der Jagd nach Frischfleisch. Als er zwischen den Bäumen verschwand, stürzte Custo zu Annabella.
Sie verharrte verloren in einer wunderschönen Pose und wartete auf Albrechts Rückkehr. Ihr Gesicht leichenblass, ihre Lippen grau und ihre Alabasterhaut von einem feinen Netz aus Schatten überzogen. Als sie den Blick hob, sah Custo, dass ihre Iris und die Pupillen vollkommen schwarz waren und ins Leere blickten, als sei sie blind.
Vorsichtig ging er auf sie zu. »Annabella?«
Sie antwortete nicht.
»Annabella, ich bin es. Custo.« Er griff ihre Schultern und schüttelte sie sanft. Ihnen blieb keine Zeit. Sie musste ihre Magie herbeirufen und sie zurückbringen. Der Wolf konnte jeden Augenblick zurück sein.
»Annabella, ich weiß, dass du da bist«, sagte er. »Komm schon, Liebes. Kämpfe. Ich brauche dich.«
Sie schien kein Wort zu hören und in einer zerbrechlichen, inneren Traumwelt verloren zu sein.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und strich mit den Daumen über ihre Wangen, die sich kalt anfühlten. Er zog sie an sich und küsste so gefühlvoll wie möglich ihre reglosen Lippen. All seine Hoffnung, seine Liebe und sein Mut flossen in sie hinein. Keine Reaktion.
»Ich liebe dich, Bella. Ich brauche dich hier. Bitte.« Er war versucht, sie zu schlagen, aber etwas sagte ihm, dass sie womöglich zusammenbrechen würde, anstatt zur Besinnung zu kommen.
»Erinnerst du dich an Jacks Wohnung, Süße? Das chinesische Essen? Als ich dir gesagt habe, dass du mir gehörst?«
Sie zuckte ganz leicht mit den Augen.
»So ist es gut. Komm zurück zu mir, Liebes«, sagte er mit rauer Stimme. Ein Universum an Emotionen erfüllte seine Brust, bis sie beinahe explodierte. »Komm zurück, und mach einen ehrlichen Mann aus mir.«
Wieder dieser abwesende Blick. So viel zum Bekennen unsterblicher Liebe. Verdammt .
Okay, denk nach. Er lehnte seine Stirn gegen ihre und atmete heftig aus.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Custo wurde streng. Er schüttelte sie stärker. »Wach auf, Annabella. Du kannst das kontrollieren. Das ist deine Gabe. Du besitzt das Talent, die Schatten zu nutzen. Setz es ein, um uns nach Hause zu bringen. Kämpfe um dein Leben. Willst du nicht tanzen?«
Nun drehte sie sanft den Kopf.
»Genau, tanzen «, sagte Custo.
»Ich habe mit Albrecht getanzt, aber er hat mein Herz gebrochen, und ich bin gestorben.«
Custo erkannte die Geschichte von Giselle . Jetzt verstand er: Sie hatte sich in dem Ballett verloren. Er versuchte krampfhaft, sich an die Einzelheiten zu erinnern. Giselle stand als Wili, als Geist, aus dem Grab auf. Als der trauernde Albrecht kam, befahl die Königin der Wilis, er müsse bis zu seinem Tod tanzen. Giselle entschied sich, mit ihm zu tanzen, um ihn durch die Nacht bis zum Morgengrauen zu geleiten.
Oh, dieser listige Wolf.
– erkommt, erkommt, erkommt –
Im Schattenreich war immer Nacht, es herrschte ewige
Weitere Kostenlose Bücher