Zwielichtlande
dass sie sich kaum traute, es sich selbst einzugestehen, ganz zu schweigen Custo.
Sie ließ den Blick über die Gesellschaft gleiten. Irgendwo in diesen atemberaubend schönen Räumlichkeiten lauerte der Wolf und arbeitete daran, ihr Leben so zu ruinieren, dass sie es nicht mehr wollte. Sollte sie sich aus Angst vor dem Wolf (und vor sich selbst) unter der Decke verkriechen oder ihr Leben in die Hand nehmen?
Verdammt, Custo hatte recht. Sie hatte zu hart daran gearbeitet, es hierher zu schaffen, diesen Begrüßungsapplaus zu erhalten.
Okay, zurück auf Anfang.
Kopf hoch , ermahnte sie sich. Das zählte zu den häufigsten Anweisungen in einer Ballettklasse, zumindest bei den kleinen, ganz jungen Tänzern. Schultern zurück , lautete eine andere. Bauch einziehen .
Eine Stunde, hatte Custo versprochen. So lange konnte sie etwas Haltung zeigen. Ach, sie schaffte auch locker zwei. Haltung war schließlich ihre Spezialität.
Eine illustre Gruppe hielt sie mit Glückwünschen und überschwänglichen Komplimenten auf. »Zauberhaft!«, »Überirdisch!«, »Fantastisch!« Die Ausrufe kamen der Wahrheit so nahe, dass sie sich nicht richtig darüber freuen konnte. Aber Schauspielern gehörte ebenfalls zu ihrem Beruf, also lächelte sie und errötete und dankte den Gönnern des Balletts für ihre freundlichen Worte.
Sie küsste Jasper auf beide Wangen, der sie umarmte und ein Foto von ihr und Venroy schoss, der wiederum enttäuscht war, dass sie heute Morgen nicht am Training teilgenommen hatte.
Unnötigerweise lenkte sie Custo durch die Gruppen und in ein Besprechungszimmer an der Seite. Ein riesiger, wundervoller Tisch stellte das einzige Möbelstück im Raum dar.
»Trink etwas.« Custo schob ihr ein Glas Wein in die Hand. »Dieser Empfang findet zu deinen Ehren statt. Du darfst ihn genießen.«
Annabella runzelte die Stirn, als ihr das fruchtige Aroma in die Nase stieg. Auf leeren Magen war das vielleicht keine so gute Idee. »Ich genieße es.«
»Anna!«, schrie eine vertraute weibliche Stimme über den Partylärm hinweg.
Annabella blickte über ihre Schulter. Katrina winkte sie heran. Sie stand mit ein paar Mädchen, die von den Partygästen kaum gewürdigt wurden, an der Seite.
Annabella löste sich von Custo, der jedoch ihre Hand griff, als ihn eine aufdringliche alte Schachtel mit unmöglichen Brüsten anflirtete.
»He«, sagte Annabella und zwang sich zu lächeln, »seid ihr schon beschwipst?«
»Du warst heute Morgen nicht beim Training. Alle haben dich vermisst.« Katrinas Augen strahlten, ihre Wagen waren gerötet. Ja, ein bisschen beschwipst.
Annabella öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Katrina fuhr fort, »Oh mein Gott! Erzähl. Ist da etwas zwischen dir und Jasper? Wir dachten, er wäre schwul !«
Die anderen Ballettmädchen zischten sie an, damit sie etwas leiser sprach, aber Katrina redete mit unverminderter Lautstärke weiter. »Und dann prügelt der sich deinetwegen mit diesem scharfen Kerl – wer war das eigentlich? – kaum, dass der Vorhang gefallen ist. Venroy ist soooo wütend, aber jemand hat gehört, wie er am Telefon ein Loblied auf dich gesungen hat. Ganz so wütend kann er also nicht sein, wenn du weißt, was ich meine. Was ist los?«
Schadensbegrenzung. Annabella gab sich besonders gelassen, um Katrina etwas zu beruhigen. »Soweit ich weiß, ist Jasper immer noch schwul. Er hatte nur etwas genommen, was ihn durcheinandergebracht hat. Irgendwelche komischen Kräuter, glaube ich. Jetzt ist er wieder okay.«
»Und der?« Katrina grinste dümmlich in Custos Rücken. Ein paar Mädchen kicherten in ihre Gläser.
»Ein Freund.«
»Ein guter Freund«, korrigierte Katrina.
Annabella zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was er ist.«
»Hör zu, wenn du ihn nicht willst … «
Custo nutzte die Gelegenheit, sich zu ihr umzudrehen und ihr ins Ohr zu flüstern: »Wenn du hier fertig bist, solltest du ein bisschen mit den Gönnern plaudern, ansonsten sind wir die ganze Nacht hier, Freundin .«
»Ich bin fertig«, erwiderte Annabella, aber nicht weil er das gesagt hatte. Sie liebte Tratsch; sie war nur nicht gern diejenige, über die man tratschte. Wenn sie ihnen von dem Wolf erzählte, würden sie die Männer im weißen Kittel holen und sie einsperren lassen.
Aber das war ihr in Segue ja schon passiert.
Sie und Custo betraten eine Art Empfangsraum hinter der Halle. Immer noch kein Wolf, aber jede Menge düsterer Schatten. In dem Raum standen nur wenige
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