Zwielichtlande
Möbel, damit genug Platz für die Gäste blieb. Es gab lediglich einen Abstelltisch an der Rückwand und ein paar gepflegte Polstersessel. An den Wänden hingen Familienporträts, deren Gesichter von Lichtspots angestrahlt wurden.
» Bravo !«, rief eine Frau, als sie eintraten. Ein kleiner Kreis öffnete sich, um Annabella und Custo in sich aufzunehmen.
»Haben Sie vielen Dank, aber das Lob gebührt wirklich dem gesamten Ensemble.« Annabella verstummte, als Custo seinen Arm um ihre Taille legte und sie dicht an sich zog. Sie spürte, dass sein Herz hämmerte.
Oh, nein. Irgendetwas stimmte nicht. Schon wieder. Wo war er? Wo war der Wolf?
Ihr Puls ging schneller. Auf der Suche nach der Gefahr blickte sie über ihre Schulter zu Custo, aber der starrte einen Mann an, kein Monster.
Der Mann war älter, aber noch nicht alt. Groß und breitschultrig. Vielleicht in den Fünfzigern, Lachfalten gruben sich in die Haut um seine Augen. Seine dunklen Haare waren grau meliert, und er besaß dieselben ausgefallenen grünen Augen wie … Die Welt war klein.
»Ich dachte, du wärst tot«, sagte der Mann.
»Das bin ich«, antwortete Custo seinem Vater verdammt kühl. Wenn sie je so mit ihrer Mutter gesprochen hätte, hätte sie etwas erleben können.
»Ich war auf deiner Beerdigung«, setzte der Mann nach.
Die Gespräche und Glückwünsche in dem erlesenen Kreis verstummten.
»Das wäre nicht nötig gewesen.«
»War das ein Trick?«, fragte der Mann. »Steckst du wieder in Schwierigkeiten?«
Custo schien Ärger förmlich anzuziehen. Er war eigen, schwierig und manchmal ziemlich gemein. Die Vermutung des Mannes, dass Custo seinen Tod vielleicht nur inszeniert hatte, schien deshalb überzeugender als die Wahrheit.
Der Mann starrte Custo eine Weile an, tausend beunruhigende Gedanken sprachen aus seinen Augen, aber selbst ihr dämmerte augenblicklich, dass sie dieses Gespräch lieber an einem intimeren Ort fortsetzen sollten.
Als der Blick des Mannes zu ihr herabglitt, drückte Custo seinen Arm noch fester um ihre Taille. »Ich bin Evan Rotherford.«
Custo zog sie zurück, so dass sie die ausgestreckte Hand des Mannes nicht erreichen konnte. Annabella beugte sich jedoch nach vorn. Auf eine höfliche, altmodische Art berührte er ihre Fingerspitzen.
»Das war eine beeindruckende Vorstellung gestern Abend. Sie haben mich verzaubert«, sagte Mr. Rotherford. Er sprach mit der flachen Betonung eines Mannes aus Neu-England und klang nach Geld. »Ich bin immer ein großer Ballettliebhaber gewesen, aber ich war noch nie so gerührt.« Er blickte zu Custo. »Die Bewunderung für das Ballett muss in die … «
»Wir sind hier fertig«, verkündete Custo. Er zerrte sie mit sich fort und beendete das Gespräch zwischen seinem Vater und ihr.
Custo schleppte sie zum Ausgang des Raumes in Form eines Torbogens. Annabella passte sich seinem Schritt an und versuchte ihren gemeinsamen Abgang so natürlich wie möglich wirken zu lassen, was sich allerdings etwas schwierig gestaltete, da ihre Füße kaum den Boden berührten. Hatte sie dafür ein Leben lang Tanzunterricht gehabt? Sie bahnte sich einen Weg durch die Halle in den gegenüberliegenden Raum, der ähnlich geschnitten war. Hier standen jedoch ein paar Sofas, auf denen kleine alte Damen starke Getränke aus kleinen Gläsern genossen.
Annabella versuchte sich noch einmal umzudrehen, aber Custo drückte sie derart fest an sich, dass er ihr beinahe die Rippen brach.
Custos Vater hatte einen netten Eindruck auf sie gemacht. Er hatte von der verfluchten Vorstellung geschwärmt, was für seinen Geschmack sprach. Was immer zwischen ihm und seinem Sohn vorgefallen war, so schlimm konnte es nicht gewesen sein. Er war wirklich schockiert von Custos Auftauchen gewesen, nicht aber von Custos rüdem Verhalten. Offenbar war er schon daran gewöhnt. Mussten Engel nicht versöhnlich sein?
»Ich will nicht darüber reden«, sagte Custo und erstickte von vornherein jede Diskussion.
»Aber du bist sein Sohn.«
»Ich bin sein Bastard«, zischte Custo. »Das Wort hat er mir beigebracht. Als ich vier war. Als er meine Mutter entlassen und uns aus dem Haus geworfen hat.«
Annabella ignorierte Custos festen Griff und drehte den Kopf in dem Bemühen, noch einen Blick auf den Mann zu erhaschen. Sie musste ihn falsch eingeschätzt haben. Jemand, der so gut und so charmant aussah, konnte doch nicht so grausam sein.
Evan folgte ihnen quer durch die Halle.
»Drehe deine Runden, damit wir hier
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