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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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weggeworfenes Kinderspielzeug hielt. Ein zerfleddertes Stofftier vielleicht. Als er darauf zuging, erkannte er, was es war. Er würgte, aber seine Beine trugen ihn weiter vorwärts.
    Richard Gerling starrte auf den Kopf einer Katze hinunter. Die Augen in dem Schädel waren weit aufgerissen, auf der flachen Nase glänzte getrocknetes Blut, die winzige Zunge ragte ein Stück zwischen den spitzen Zähnen hervor.
    Ihm fiel die kleine Katze ein, die er in der vorletzten Nacht dabei beobachtet hatte, wie sie in die Ruine schlich. Er war sich sicher, dass sie es war. Richard spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er machte kehrt, versuchte den Inhalt seines Magen zurückzuhalten und rannte die Treppe zu seiner Wohnung empor. Auf halber Höhe begegnete er dem Dicken, der auf seiner Etage wohnte, quetschte sich mit der Hand vor dem Mund an ihm vorbei und schaffte es mit Mühe auf die Toilette. Anschließend hockte er keuchend auf dem Badewannenrand.
    Es klopfte an der Tür und eine hohe Männerstimme fragte: „Brauchen Sie Hilfe?“
    Richard wischte sich den Mund ab, sah im Spiegel sein Gesicht – eine weißliche, mit einem feinen Schweißfilm überzogene Maske – und schwankte zur Tür. Es war sein übergewichtiger Nachbar. Er musste auf der Treppe kehrt gemacht haben und blickte ihn jetzt mit seinem aufgedunsenen, aber immer noch jungenhaften Gesicht so sorgenvoll an, dass es schon beinahe komisch aussah.
    „Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte er. Sein Atem ging stoßweise.
    „Danke“, erwiderte Richard. „Es geht schon wieder. Vor dem Nachbarhaus liegt ein Katzenkopf. Von dem Anblick ist mir übel geworden.“
    Sein Nachbar wirkte ernsthaft erschrocken. „Ein Katzenkopf?“
    Richard nickte stumm.
    „Wie sieht der aus?“ Der Dicke begann zu beben wie ein Wackelpudding. „Grau?“
    „Ja. Warum?“
    Sein Nachbar stieß einen hohen Schluchzer aus und stürmte die Treppe mit einer Geschwindigkeit hinab, die Richard dem Mann niemals zugetraut hätte. Er sah dabei aus wie ein vom Sturm hin und her geworfener Tanker auf hoher See.
    Richard folgte ihm. Vor dem Eingang des Nachbarhauses ging der Mann in die Hocke und riss beide Hände vors Gesicht. Er sah zu Richard auf und Tränen rollten über die speckigen Wangen.
    „Das ist Pauli“, schluchzte er. „Mein kleiner Pauli!“ Der Nachbar streckte den rechten Arm nach dem abgetrennten Kopf aus. „Wer tut so etwas?“ Die Augen des Mannes drohten aus ihren Höhlen zu springen. „Und ... und wo ist der Rest von Pauli?“
    „Ich weiß es nicht“, sagte Richard leise. Er berührte seinen korpulenten Nachbarn sanft an der Schulter. Die Reaktion des Mannes verblüffte ihn. Der Dicke erhob sich und schlang beide Arme um Richard. Weinte so herzerweichend, dass Richard nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Obwohl es ihm peinlich war, ließ er den Mann gewähren, fühlte den ausladenden und gleichzeitig nachgiebigen Körper des Mannes an sich gepresst, bis sich die Umarmung löste.
    „Ich hole eine Tüte“, schniefte der Nachbar und wankte auf den Hauseingang zu.

Der Unfall

    Am Nachmittag hatte Richard endlich den Vermieter ans Telefon bekommen und ihm von der Rattenplage berichtet. Der Mann versprach, sich umgehend darum zu kümmern.
    Jetzt in der abendlichen Stille dachte Richard darüber nach, ob wirklich Ratten den armen Pauli so zugerichtet haben konnten. Wo war der Körper geblieben? Und wie war der Kopf vor die Haustür gelangt?
    Richard wünschte, er hätte sich Zeit genommen, den Kopf näher zu betrachten, um nach Bisswunden oder anderen Spuren zu suchen. Vielleicht hatte auch ein Mensch die Katze so bestialisch umgebracht. Egal, wie es dazu gekommen war, sein Nachbar tat ihm leid. Pauli musste ihm viel bedeutet haben. Er hatte den Mann noch lange schluchzen gehört.
    Richard wollte den Rat des Psychiaters so gut wie es ging beherzigen und hatte vor dem Zubettgehen eine einzige Formigran eingenommen. Sein Kopf fühlte sich heute Abend nur ein wenig taub an, aber er wusste, dass die Schmerzen jederzeit aus dem Nichts zuschlagen konnten, sich geschickt verbargen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Die halbleere Schachtel Formigran hatte er deshalb in Reichweite deponiert.
    Seine Gedanken schweiften zu Maria ab. Ihr weißer Kittel hatte ihn beim ersten Anblick angezogen. Er wusste, dass der Ursprung seiner Vorliebe für Schwesterntracht und Kittel in seiner frühen Jugend zu suchen war.
    Als Elfjähriger war er auf einer Fahrradtour zu seinem besten Freund, der

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