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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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damals in einem Dorf östlich von Unna wohnte, gestürzt. Der Sturz war nicht so dramatisch gewesen. Er wäre mit vom Asphalt aufgeschürften Handflächen davongekommen, wenn da nicht der nachfolgende Lastwagen einer Speditionsfirma gewesen wäre.
    Der Lkw hatte ihn überrollt.
    Er würde niemals die Geräusche vergessen: das Nageln des Dieselmotors – erst direkt neben sich und plötzlich unmittelbar über sich – dann das trockene Splittern, als der rechte Vorderreifen beide Unterschenkel überrollte.
    Als der Lastwagen mit schnaufenden Bremsen zum Stehen kam, lag er unter der Ladefläche, spürte in den ersten Sekunden keinen Schmerz und starrte verwirrt auf die rostige Auspuffanlage vor seinem Schädel und erst dann auf seine Beine, die unterhalb des Knies wie die Gliedmaßen einer Marionette aussahen. Seltsam zerknickt. Beide Unterschenkel bogen sich nach rechts, in einem Winkel, der doch unmöglich und ... so falsch war.
    Als dann ein Mann auftauchte und ihn mit schmutzigen und behaarten Armen unter dem Wagen hervorziehen wollte, hatte er ein hässliches Geräusch – Knochen rieben an Knochen – gehört und eine Welle aus Schmerz hatte sein junges Bewusstsein in ein schwarzes Loch katapultiert.
    Viele darauf folgende Monate hatte Richard im Krankenhaus verbracht. Beide Beine in einem metallenen Gestell fixiert, die zerschmetterten Unterschenkelknochen mit Nägeln und Drähten zusammengehalten.
    Die Wirkungsdauer der Medikamente bestimmte die Gezeiten, in denen sich die Qualen langsam und nagend heranschlichen, um ihn bei ihrem Höchststand zu einem wimmernden Stück Mensch zu reduzieren. Junge Frauen in weißen Trachten brachten ihm dann die ersehnte Linderung, sahen ihn mit einem sanften Lächeln an, dass ihre Besorgnis nicht verdecken konnte.
    Doch selbst das Gefühl, alles unterhalb der Knie hätte sich in gesplittertes Holz verwandelt, überwand nicht die Scham, wenn die Frauen ihn wuschen und die Bettpfanne unter ihn schoben. Er war erst elf und sollte sich nie ganz an diese, wenn auch notwendigen, Eingriffe in seine Intimsphäre gewöhnen können.
    Aber doch spürte er viele Jahre später diese Affinität für die Kleidung von Schwestern und Ärztinnen. Er hatte sie nie ausgelebt. Nur in seinen Fantasien.
    Er hatte wieder laufen gelernt. Die purpurfarbenen, geschwollenen, mit Metall gespickten Stelzen, die für lange Zeit nicht mehr zu ihm zu gehören schienen, waren wieder Teil seiner Gliedmaßen geworden. Und heute schimmerten zwischen der Behaarung nur noch Reihen blasser Narben.
    Wäre der Lkw damals beladen gewesen, so sagte ihm später jemand, hätte das Gewicht die Knochen pulverisiert.
    Nach zwei Jahren hatte er nicht einmal mehr hinken müssen, nur ein Sportass war er nie geworden.
    Richard richtete sich auf und drehte für einen Moment das Radio neben dem Bett leise. Er lauschte. Er hörte ein Auto, das langsam auf der Straße vorbeifuhr und dann nichts. Die Nacht war ganz still. Selbst die Ratten hatten eine Pause eingelegt. Er versuchte den Gedanken an sie zu verscheuchen. Auch ohne das Wissen, dass die Ruine unmittelbar hinter der Wand von Horden dieser Viecher bevölkert war, die Katzen buchstäblich in Stücke rissen, würde er keinen Schlaf finden.
    Richard Gerling ließ den Moderator im Radio weitermurmeln und schloss die Augen. Er war erschöpft, ausgebrannt, aber er wusste, dass er trotzdem dazu verdammt war, noch lange wach bleiben zu müssen.

    Er war wieder Billy und trug Latex unter der Jeans. Schon seit Stunden.
    Er parkte den BMW wie immer ein Stück vom Club Basic entfernt. Das Basic machte von außen einen völlig unscheinbaren Eindruck. Eine kleine Leuchtreklame, eine schlichte Getränkekarte neben der Tür. Mehr nicht. Man hörte und sah nichts von dem, was drinnen vorging.
    Der Türsteher nickte ihm lächelnd zu und ließ ihn vorbei.
    Für Jemanden, der zum ersten Mal über die Schwelle trat, wirkte das Etablissement wie eine etwas anrüchige Kneipe. Gedämpftes Licht, ein warmes Rot, das die körperlichen Unzulänglichkeiten mancher Gäste unsichtbar werden ließ.
    Es waren keine Frauen anwesend und einige der Männer bevorzugten Lederkleidung. Es gab ein paar Sitznischen mit gepolsterten Bänken. Auf kleinen Tischen flackerten Kerzen in bunten Gläsern. Der Teppichboden, dessen Farbton man in dem Rotlicht nur als dunkel erahnen konnte, wies zahlreiche Brandlöcher auf. Der Dunst von Zigaretten vermischte sich mit dem Aroma von Marihuana.
    Der Raum wurde beherrscht von

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