Zwienacht (German Edition)
wäre die Stichwaffe überhaupt nicht existent. Richards erste Reaktion war zurückzuweichen, aber er unterdrückte sie und stellte sich vor den alten Mann. Einen Augenblick lang veränderte sich die wutverzerrte Miene seines Nachbarn nicht, aber dann wanderte sein Blick über Richards Gesicht. Er blieb stehen. Richard verspürte ein klein wenig Erleichterung und wunderte sich gleichzeitig darüber, woher er den Mut nahm. Vielleicht weil er erlebt hatte, wie verletzbar sich sein Nachbar angesichts des toten Katers gezeigt hatte.
„Was ist hier eigentlich los?“, fragte Richard. Er ließ den dicken Mann, der in seiner Kleidung wie ein wahnsinnig gewordener Al Capone aussah, dabei nicht aus den Augen. Ihm schien, als wäre der Blickkontakt der einzige Einfluss, den er zurzeit auf den Mann hatte.
Ein Auto näherte sich, der Fahrer verringerte die Geschwindigkeit, als er sich mit den drei Männern auf gleicher Höhe befand und beschleunigte dann so hektisch, dass die Antriebsräder über das Kopfsteinpflaster radierten.
Plötzlich schoss die rechte Hand des Nachbarn nach vorn und umklammerte Richards Unterarm. Richard stieß vor Überraschung einen leisen Schrei aus. In den speckigen Fingern steckte eine enorme Kraft, alles Weiche, Nachgiebige schien von dem Mann abgefallen zu sein. Sein Mondgesicht war jetzt direkt vor Richard.
„Der Kerl hat meinem Pauli den Kopf abgeschlagen.“ Richard roch den süßlichen Atem des Mannes. „Dafür wird er büßen.“
„Hören Sie mir genau zu.“ Richard sprach ganz deutlich und versuchte den schmerzhaften Griff um sein Gelenk zu ignorieren. „Der alte Mann hinter mir hat ein scharfes Schwert auf uns beide gerichtet. Und er ist aufgeregt genug, um es auch zu benutzen.“
„Oh ja! Oh ja!“, stieß sein Gegenüber hervor und nickte dabei so heftig, dass seine Wangen in heftige Wellenbewegungen gerieten.
„Es kann hier zu Verletzten kommen“, fuhr Richard konzentriert fort. „Vielleicht sogar zu einem oder mehreren Toten. Einer davon könnte ich sein.“
„Sie?“ Die Augen des Mannes wurden ganz groß.
„Genau.“
„Warum das denn?“ Die Raserei in dem Gesicht wich ehrlicher Verblüffung.
„Weil ich zwischen euch stehe und einfach nicht weggehen werde.“
„Warum tun Sie das? Sind Sie verrückt?“
Richard überlegte, dass er wohl in der Tat verrückt sein musste, um einem durchgedrehten Koloss und einem senilen Schwertkämpfer als Pufferzone dienen zu wollen.
„Ich möchte, dass Sie mich loslassen und sich dann beruhigen. Wir sollten miteinander reden.“
Der Hass kehrte in das Gesicht des Mannes zurück. „Reden! Was gibt`s da noch zu reden!“
„Ich wiederhole“, sagte Richard so sanft, wie es sein rasender Puls zuließ. „Ich gehe hier nicht weg.“
Sein Nachbar machte einen Moment die Augen zu, und als er sie wieder öffnete, sah Richard einen Glanz darin, den er für Tränen hielt. Der Griff um seinen Arm löste sich.
„Gut.“ Richard flüsterte beinahe. Er nahm das Risiko auf sich, dem Nachbarn den Rücken zuzuwenden und drehte sich langsam zu dem alten Mann um. Der hielt die Klinge in seinen leberfleckigen Händen mittlerweile gesenkt und sah ihn unbehaglich an. Ehe Richard ihn ansprechen konnte, sagte er: „Ich habe seinen Kater nicht umgebracht. Ich weiß nicht, wieso er darauf kommt.“
„Vielleicht weil Sie hier mit einem Schwert durch die Gegend laufen.“ Richard bereute seine Worte sofort, denn sie stachelten den Nachbarn erneut an. Er spürte, wie er sich gegen seinen Rücken stemmte.
„Genau!“, rief er. „Das ist doch krank!“
„Ich habe das Schwert auf einer Auktion ersteigert.“ Der alte Mann klang trotzig. „Ich sammele antike Waffen. Hier!“ Er deutete auf ein rotes Samttuch, das auf dem Bürgersteig lag. „Die Waffe war darin eingewickelt. Soll ich Ihnen die Quittung zeigen?“
„Schon gut.“ Richard winkte ab. „Gibt es irgendwelche Beweise dafür, dass dieser Mann dem Kater etwas angetan hat?“, fragte er dann seinen Nachbarn.
Der dicke Mann hob den rechten Arm, wohl um auf das Schwert zu deuten, ließ ihn auf halber Höhe aber wieder fallen, als sei alle Kraft aus ihm gewichen. Er schluchzte kurz.
„Jemand hat seinem Kater den Kopf abgeschlagen“, sagte Richard. „Er ist deshalb ein wenig durcheinander.“
Der Alte zog die Brauen hoch. „Ein wenig ist gut! Aber noch mal zum mitschreiben: Ich war es nicht. Kein Teil meiner Sammlung verlässt die Wohnung. Und dieses Schwert habe ich letzte
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