Zwienacht (German Edition)
Woche in Leipzig ersteigert und gerade von einem Bekannten abgeholt, der es restauriert hat. Es befand sich nämlich in einem erbärmlichen Zustand.“
Richard warf seinem Flurnachbarn einen kurzen Blick zu. Die Gefahr schien gebannt. Er stand einfach gesenkten Hauptes auf der Stelle und atmete so schwer, dass sich seine Brust wie ein Blasebalg zusammenzog und wieder aufblähte.
Richard wusste nicht, ob er dem Rentner glauben sollte. Liebhaber von Waffen waren ihm schon immer suspekt vorgekommen. Andererseits hatte der alte Mann bisher immer einen harmlosen und freundlichen Eindruck gemacht.
„Was hat er jetzt?“ Der Rentner deutete mit dem Schwert auf den Mann hinter Richard. Ehe Richard sich umdrehen konnte, hörte er ein Geräusch, als würde ein Sack Kartoffeln umfallen.
Richards Nachbar lag auf dem Bürgersteig, versuchte sich wieder aufzurichten, schaffte es aber nur sich mit den Ellbogen abzustützen und sah benommen zu ihnen auf.
„Es ... es is nich weier schimm“, stammelte er kaum verständlich. „Ich bauche nu mein ... Ischulin.“
„Sie sind Diabetiker?“, fragte Richard besorgt und ging neben dem Mann in die Hocke. „Soll ich einen Arzt rufen?“
Sein Nachbar schüttelte den Kopf und nahm einen neuen Anlauf wieder auf die Beine zu kommen. Richard half ihm dabei und jetzt eilte auch der Rentner hinzu. Gemeinsam gelang es ihnen den Koloss auf seine wackeligen Beine zu stellen. Es schien ihm ein wenig besser zu gehen. Es gelang ihm jetzt auch wieder die Wörter klar zu artikulieren. Mit tastenden Schritten, als hätte sich das Pflaster in dünnes Eis verwandelt, begann er die Straße zu überqueren.
„Ich werde ihn begleiten“, sagte Richard zu dem alten Mann, der sein Schwert sorgsam mit dem Samttuch umwickelte.
„Tun Sie das.“ Der Rentner sah zu dem dicken Mann und dann wieder zu Richard. „Der Bursche sollte sich schleunigst untersuchen lassen.“
„Werden Sie Anzeige erstatten?“, fragte Richard.
Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Aber ich wäre froh, wenn Sie in Zukunft auf Ihren Freund besser aufpassen.“
„Er ist nur mein Nachbar“, erwiderte Richard.
Der Besuch
Richard fühlte sich nach dem Vorfall verwirrt, und während er hinter dem dicken Mann die Treppe hinaufstieg, wusste er nicht, woher er den Mut für sein entschlossenes Handeln genommen hatte. Er war nie ein Held gewesen, eher jemand, der bewusst Orte wie Stadtfeste oder Fußballstadien mied, an denen es möglicherweise zu Auseinandersetzungen kommen könnte.
Vor der Wohnungstür verharrte sein Nachbar ein paar Sekunden, stützte sich mit pfeifendem Atem am Türrahmen ab und wandte sich dann wie in Zeitlupe zu Richard um. Das Gesicht des Mannes war schweißüberströmt. Ein Tropfen löste sich von der Nase und fiel zu Boden.
„Ich komme klar“, sagte er mit fast geschlossenen Lippen. „Bis später.“
Ehe Richard etwas erwidern konnte, verschwand der Mann in seiner Wohnung und schloss die Tür. Richard war unschlüssig, ob es richtig war, ihn in diesem Zustand allein zu lassen, aber gleichzeitig musste er jetzt selbst dringend zur Ruhe kommen.
Er betrachtete das handgeschriebene Namensschild über der Klingel neben der Tür.
Jan Münzberg hieß der Mann.
Richard horchte noch eine Weile, aber in der Wohnung seines Nachbarn herrschte Stille.
Er fragte sich, ob Maria etwas von der Sache mitbekommen hatte. Sie war noch immer bei Frau Ahrens. Normalerweise blieb sie ungefähr eine Stunde bei der alten Frau. Er wusste nicht, wie lange die Szene mit Jan Münzberg und dem Rentner gedauert hatte. Vielleicht hatte sie alles durch ein Fenster beobachtet.
Richard kehrte in seine Wohnung zurück und ertappte sich dabei, wie er ohne darüber nachzudenken, die Tür nicht nur abschloss, sondern zusätzlich die Sicherheitskette vorlegte. Das hatte er nie zuvor getan. Die Zeiger der Küchenuhr standen auf halb zehn, also hatte die Auseinandersetzung auf der Straße nur ein paar Minuten gedauert.
Er setzte sich an den Tisch und starrte Marias Kaffeetasse an. In seiner Jugend hatte er sich immer gewünscht nicht schlafen zu müssen, um die so geretteten Stunden nutzen zu können. Heute bekam er mehr wache Stunden, als er sich wünschte. Sie waren nutzlos, weil sie ihm nahezu jegliche Kraft raubten. Ein Tag schien zu zwei Tagen geworden sein. Zu einer dahinsiechenden Zeitspanne ohne Ziel.
Eigentlich hatte er auf Marias Schritte im Treppenhaus lauschen wollen, aber als er den Kopf hob, zeigte die Uhr
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