Zwienacht (German Edition)
winzigen Lautsprecher neben seinem Ohr hörte er wie der Anrufer genüsslich Nikotin einsog.
„Warum haben Sie mir dieses Päckchen geschickt? Das ist abscheulich.“
Die Stimme des Anrufers blieb ganz ruhig. „Es ist nur ein Andenken an einen guten Freund. Das heißt, so ein guter Freund kann er gar nicht gewesen sein. Wo er dich doch ganz allein mit mir zurückgelassen hat. Ich musste ihm nur ein wenig Geld zustecken und schon durfte ich deinen Arsch nach Belieben versohlen.“ Der Anrufer kicherte, als hätte er einen gelungenen Scherz gemacht. „Sei´s drum. Ich verlange von dir folgendes.“
Er hörte den Forderungen des Anrufers zu, starrte wie gelähmt auf die Silhouette des Mannes in dem Kombi vor dem Haus und presste schließlich ein „Nein“ hervor.
„Ein Nein kann ich nicht akzeptieren“, erwiderte der Anrufer mit leicht erhobener Stimme. „Ich habe das Päckchen deiner lieben Mutter persönlich überreicht. Vielleicht bin ich beim nächsten Besuch nicht mehr so höflich zu ihr.“
Vanille
Richard hatte nicht geschlafen. Nur ein paar Mal war ihm das Kinn auf die Brust gesackt, während er mit Krügers Stilett auf dem Bett gehockt hatte, um einem erneuten Auftauchen der Ratten gewappnet zu sein.
Gegen acht Uhr beschloss er bei der Stadtverwaltung anzurufen. Meinetwegen sollten sie die Ruine nebenan ausräuchern oder abfackeln.
Das Telefon lag noch immer auf dem Fußboden im Flur. Richard wollte sich bücken, um es aufzuheben, ließ es aber bleiben, als er spürte, wie ihm schlagartig schwindlig wurde. Er ging vorsichtig in die Hocke und musste feststellen, dass die graue Plastikhülle durch den Aufprall an einer Seite einen langen Riss davongetragen hatte. Das Telefon funktionierte nicht mehr.
Er blieb einfach auf dem Boden hocken und lehnte sich seufzend gegen die Wand. Er war am Ende. Die Vorstellung, sich zu Fuß oder mit dem Auto, das immer noch am Rathaus stand, zu dem zuständigen Amt aufzumachen, erschien im unmöglich. Sein Herz schlug mit angsteinflößender Geschwindigkeit und in seinem Schädel dröhnte ein Wespenschwarm.
Kaum hatte er die Augen geschlossen, kehrte die Erinnerung an das Trippeln der Rattenklauen auf dem Parkett zurück. Richard schreckte hoch und sah sich hektisch nach allen Seiten um.
Zu den Schlafstörungen hatte sich jetzt noch völlige Appetitlosigkeit gesellt. Er brauchte sich nicht auf die Waage zu stellen, um zu wissen, dass er in der letzten Zeit deutlich an Gewicht verloren hatte. Wenn er keinen Gürtel benutzte, rutschten ihm die Hosen von der Hüfte beim ersten Schritt in die Kniekehlen. Außerdem hatte er das Gefühl, dringend eine neue Brille zu benötigen. Alles um ihn herum verlor an Schärfe. Um die Zeitung oder ein Buch lesen zu können, musste er sich die Seiten fast gegen die Nasenspitze drücken. Aber der Weg zu einem Augenarzt oder einem Optiker erschien beschwerlicher als eine Reise in die Innere Mongolei.
Richard hatte es gerade geschafft sich zu waschen und anzuziehen, als es leise an der Wohnungstür klopfte. Er wunderte sich darüber, dass der Besucher nicht die Klingel benutzte, überlegte, ob er überhaupt in der Verfassung war, jemanden zu empfangen und öffnete widerwillig.
Maria Couto dos Santos hatte sich gerade zum Gehen gewandt. Sie drehte sich lächelnd um, als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde.
„Ich wollte nicht klingeln“, sagte sie. „Weil ich dachte, dass Sie vielleicht doch noch schlafen.“
„Ich bin schon lange wach“, erwiderte er und aktivierte seine letzten Reserven, um einen halbwegs annehmbaren Eindruck zu machen. Sie sah zu ihm auf und er konnte in ihren dunklen Augen lesen, dass sie genau wusste, wie es um ihn stand.
„Frau Ahrens findet Sie außerordentlich interessant“, sagte Maria. „Sie hat sogar damit begonnen, ihre Erlebnisse während der Nazizeit für Sie aufzuschreiben. Für Ihr Buch.“
Richard brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass er gegenüber der Portugiesin behauptet hatte, an einem Buch über Mittelsachsen während der Nazizeit zu arbeiten. „Ich habe ihr doch gar nichts über mein Buch erzählt.“
„Aber ich“, erwiderte Maria. „Ich hoffe, das war in Ordnung für Sie?“
„Na klar.“ Richard verspürte mit einem Mal den Drang die Frau zu umarmen, zu küssen und ihr alles zu beichten, was er die ganze Zeit verheimlicht hatte. Aber er wusste, dass der Zeitpunkt nicht richtig war. Er würde nur aus Selbstmitleid handeln, um jemanden zu haben, der ihm
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