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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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schwarzen Slipper ausgezogen und die Hausschuhe übergestriffen, hörte er das sonore Summen des elektrischen Rollstuhls näher kommen.
    „Du warst den ganzen Tag unterwegs!“ Sie stoppte unmittelbar hinter ihm. Ihre Frisur sah aus, als hätte sie versucht sich ihre Haare auszureißen. „Gehst du noch mal weg?“
    „Nein“, erwiderte er einsilbig und versuchte seine Nervosität mit einem Lächeln zu überspielen.
    „Das ist schön.“ Er ließ es zu, dass sie sich vorbeugte und seine Hand tätschelte. Er konnte riechen, dass sie wieder getrunken hatte, unterließ aber eine Bemerkung. Alkohol führte bei ihr dazu, dass sie früh zu Bett ging und ihn in Ruhe ließ. Außerdem sah er keinen Sinn darin, dass seine kranke Mutter in der Endphase ihres Lebens noch Verzicht üben sollte.
    „Der Postbote hat ein Päckchen für dich abgegeben“, sagte sie.
    „Heute? Aber am Sonntag kommt doch keine Post.“ Es kam immer wieder vor, dass seine Mutter zeitliche Abläufe durcheinander brachte. Möglicherweise sprach sie von einem Päckchen, dass schon vor Wochen geliefert worden war.
    „Früher konnte man auch nicht bis in die Abendstunden hinein einkaufen“, erwiderte seine Mutter, fuhr mit dem Rollstuhl einen Meter rückwärts und vollzog dann eine so scharfe Wende, dass sie ihren Sohn beinahe gerammt hätte. „Ich mache uns ein paar Schnittchen zum Abendessen“, hörte er sie sagen, als sie bereits auf dem Weg in die Küche war. „Das Päckchen steht übrigens auf dem Wohnzimmertisch. Der Postbote war sehr nett. Ich habe ihm zwanzig Cent Trinkgeld gegeben.“
    Er spähte vom Flur in das große Wohnzimmer. Das Päckchen, eines von denen, die man bei der Post kaufen konnte und dann nach Anleitung zusammenfalten musste, stand auf dem Tisch neben der Obstvitrine. Es war klein – das kleinste Format aus dem Postsortiment – und fast von derselben Farbe wie die vollreifen Bananen in der Vitrine. Auf der Oberseite stand sein Name samt Adresse in schwarzen Druckbuchstaben. Der Absender fehlte. Er nahm es in die Hand, um nachzusehen, ob der Absender vielleicht auf der Unterseite zu finden war. Das Päckchen wog fast nichts, und als er es drehte und wendete, kullerte etwas im Innern hin und her.
    Geliefert an einem Sonntag, federleicht und ohne Absender. Das hätte ihn auch normalerweise ins Grübeln gebracht. Aber seit einigen Tagen existierte kein normalerweise mehr in seinem Leben. Er stellte das Päckchen behutsam auf den Tisch. Dabei rollte der Inhalt leise gegen eine der dünnen Wände aus Pappe. Er ging zum Schreibtisch seiner Mutter und holte den goldenen Brieföffner in der Form eines stilisierten Kranichs aus der obersten Schublade. Er zögerte kurz und durchstieß mit der Spitze das braune Klebeband in der Mitte des Deckels.
    Er klappte das Päckchen auf. Es war völlig leer, bis auf etwas, dass ihm in der ersten Sekunde ... obszön erschien. Sein Verstand benötigte zwei, drei weitere Sekunden, um zu erfassen, was da auf dem Boden des gelben Päckchens lag – verschrumpelt, weißlich, an einigen Stellen mit einer Nuance ins Lilafarbene – und an eine übergroße Made erinnerte. Er brauchte die Lieferung nicht mit dem Brieföffner wenden, um sich davon zu überzeugen, dass sich auf der Unterseite ein Fingernagel befand. Er starrte auf einen Daumen, der erste Anzeichen der Verwesung zeigte. Und er konnte sich nur an einen Menschen erinnern, der seines Daumens beraubt worden war.
    Dietmar Hebbel alias Carlos, der falsche Spanier.
    Er hatte diesen Daumen früher an und in seinem Körper gespürt.
    Die Geräusche in der Küche schienen aus weiter Ferne zu kommen und kamen ihm völlig fremd und sinnlos vor.
    „Sollen wir im Wohnzimmer essen?“, hörte er die Stimme seiner Mutter wie durch einen schweren Vorhang.
    „Nein!“, krächzte er und schloss eilig den Deckel des Päckchens.
    Das Handy in seiner Jackentasche vibrierte. Er hatte den Klingelton abgestellt.
    Nummer unbekannt!
    Er drückte den grünen Knopf und hielt sich das silberne Designer-Handy ans linke Ohr.
    „Ich sehe dich“, sagte die Stimme. „Hast dich rumgetrieben, was?“
    Automatisch wanderten seine Augen zur Fensterfront, starrte über die Kakteenlandschaft auf der Fensterbank hinaus in das trübe Grau des beginnenden Abends. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkten mehrere Autos. In einem Kombi – ein dunkler Volvo älteren Baujahrs – leuchtete vor den Umrissen einer Gestalt auf dem Fahrersitz ein roter Punkt auf. In dem

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