Zwienacht (German Edition)
er sich aufmachte, um Münzberg zur Rede zu stellen. Und als er die Klinge zog, hatte es so ausgesehen, als wäre er bereit, sie auch zu benutzen.
Richard beschloss, sich in Zukunft aus allem rauszuhalten. Er hatte genug eigene Probleme.
Als sich nach einer Viertelstunde noch immer nichts in Krügers Wohnung tat, faltete Richard den Kimono, den er achtlos auf den Boden geworfen hatte, zusammen. Er spürte einen Druck unter seinem linken Fuß, schimpfte sich einen Idioten, dass er es wagte, nach dem blutigen Zusammentreffen mit der Glasscherbe noch immer barfuss durch die Wohnung zu gehen, und sprang zur Seite. Aber dieses Mal hatte er in keine Scherbe getreten. Auf dem Schlafzimmerboden lag nur ein transparenter Plastikdeckel. Nicht größer als eine Zwei-Cent Münze. Richard betrachtete den runden Deckel. Es gab in seiner Wohnung keinen Gegenstand, auf den der Deckel gepasst hätte. Er schien für eine Medikamentenverpackung gemacht zu sein, aber Richards Schmerzmittel steckten in größeren Behältnissen und die homöopathischenKügelchen von Dr. Busch bewahrte er in einer metallenen Pillendose auf dem Nachtschrank auf.
Vielleicht hatte Münzberg den Deckel bei der Suche nach der Ratte verloren. Richard überlegte, dass jemand, der den lieben langen Tag auf der Suche nach einem System in den Nachrichten war, um zu beweisen, dass die Welt vor dem Untergang stand, sich sehr wohl auch mit Pillen vollstopfen könnte.
Er schlich auf den Hausflur und legte den Kimono und die kleinen Hausschuhe vor Münzbergs Wohnung ab. Hinter der Tür hörte er seinen Nachbarn heulen.
Ein federleichtes Paket
Als er in der Frühe das Haus verlassen hatte, trug er den Latexslip unter seiner Hose. In der Hoffnung, dass sich die übliche Faszination einstellen würde. Eine Erregung, die ihn für ein paar Stunden von dem ungeheuren Druck, dem er ausgesetzt war, ablenken konnte. Früher war er öfters durch die Gegend gefahren, hatte an Raststätten angehalten, um einen Kaffee zu trinken. Das Gefühl, sich mit dem engen Slip unter Menschen zu bewegen, hatte ihn stimuliert. War ein Vorspiel auf die Abende im Club gewesen.
Doch heute war er schon kurz vor Waldheim von der Straße abgebogen, um sich von dem feuerroten Kleidungsstück zu befreien. Er hatte den Slip ins Handschuhfach gequetscht und war ziellos umhergefahren. Immer wieder hatte er in den Rückspiegel geblickt, war nervös geworden, wenn ein Wagen längere Zeit hinter ihm geblieben war, um irgendwann sicher zu sein, dass ihn niemand verfolgte.
Jetzt, am späten Nachmittag, lenkte er den Wagen in die Einfahrt seines Hauses im Stadtteil Sörmitz. Er ließ den BMW heute ausnahmsweise vor der Garage stehen. Normalerweise hätte er ihn nach einer stundenlangen Fahrt durch Nieselregen mit einem extraweichen Leder trocken gerieben.
Mit siebenundvierzig war er immer stolz auf seine Kondition gewesen. Stolz auf die eiserne Disziplin, mit der er sich in Form hielt und dafür sorgte, dass er kein Gramm Fett zuviel hatte und auch auf die Jüngeren im Club noch attraktiv wirkte. Aber heute fühlte er sich alt und ausgemergelt. Immer wenn er im Rückspiegel nach Verfolgern Ausschau gehalten hatte, waren ihm die ausgeprägten Ringe unter den Augen aufgefallen. Auch die feinen, sonst fast unsichtbaren Fältchen schienen sich in den letzten Tagen immer tiefer in sein Gesicht gegraben zu haben. Die Furcht ließ ihn rasend schnell altern.
Als er ausstieg, kam zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne heraus und brachte kurz vor ihrem Untergang den Horizont zum Leuchten. Die Luft war kalt und feucht und ließ den nahenden Winter erahnen. Feiner Dunst lag über dem nassen Rasen vor dem Haus. Das untere Stockwerk – das Refugium seiner Mutter – war hell erleuchtet. Sie hielt nichts vom Stromsparen. Schließlich war sie die Witwe eines Mannes, der selbst zu Zeiten des Sozialismus sehr gut verdient hatte und nun die Mutter eines Sohnes, der in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte.
Er schloss die Haustür und wurde von dem seit Jahrzehnten immer gleichen Duft empfangen: Kölnisch Wasser. Sein Vater hatte es vor der Wiedervereinigung über Beziehungen aus dem Westen kommen lassen.
Mit der Zeit hatte sich der Geruch des Parfüms mit den Ausdünstungen einer alten Frau vermischt, die ihre Körperpflege vernachlässigte und die Funktion ihres Darmtrakts immer seltener unter Kontrolle halten konnte. Trotzdem weigerte sie sich einen Pflegedienst in Anspruch zu nehmen.
Kaum hatte er die
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