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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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aufzuschreiben.
    Als er vom Klingeln des Telefons in den Flur gerufen wurde, war ihm der braune Umschlag neben der Ladestation aufgefallen. Er hatte ihn völlig vergessen.
    Jetzt lag er vor ihm auf dem Tisch und Richard fühlte sich verpflichtet, wenigstens einen Blick hineinzuwerfen. Er öffnete ihn vorsichtig mit Krügers Stilett, weil er es als pietätlos empfand, den Umschlag einfach aufzureißen.
    Der Umschlag enthielt die Kopien eines Bauplans. Er war mit der Hand gezeichnet, wie Richard feststellte, und sehr alt. Richards Interesse galt aber zunächst dem beigefügten Brief.
    Die Schrift der alten Frau war etwas ungelenk. Sie musste tatsächlich noch einen Füllfederhalter benutzt haben, denn an einigen Stellen waren ganze Halbsätze verwischt worden.
    Richard begann, den Text zu entziffern.

    Sehr geehrter Herr Gerling,

    es kann schon fast gar kein Zufall mehr sein, dass Sie sich ausgerechnet für eine Wohnung in diesem Haus entschieden haben. Und doch hege ich meine Zweifel, dass Sie mit dem Geheimnis dieses Gebäudes vertraut sind. Ich bin die letzte hier, die eingeweiht ist. Selbst die Sandows sind erst lange nach dem Krieg eingezogen. Ich wohne seit 1929, meinem zehnten Lebensjahr, hier. Mein Vater kaufte das Haus damals. Mein Vater war ein durchaus wohlhabender Architekt und dennoch überzeugter Kommunist. Keiner von der Sorte, die Fahnen schwingend im Gleichschritt durch die Straßen zogen. Er war ein Theoretiker und wusste sehr wohl um die fehlgeleiteten Tendenzen in der KPD, aber er blieb der Grundidee treu. Ohne der Partei allerdings jemals beizutreten. Weitsichtig wie er war, erkannte er bereits vor Hitlers Machtergreifung, welche furchtbaren Konsequenzen sich daraus für alle Andersdenkenden ergeben würden. Mein Vater hatte, im Gegensatz zu den meisten, sehr wohl Hitlers Schriften und die seiner Chefideologen studiert. Im Herbst 1932 begann er mit Hilfe Gleichgesinnter an diesem Haus Umbauten vorzunehmen. Es war eine überaus komplizierte Arbeit. Vor allem, weil sie vor allen Nichteingeweihten verborgen bleiben musste. Zum Glück waren damals alle Bewohner des Hauses eingeschworene Gegner der Nazis. Im Laufe der Zeit wurden wir zu einer Adresse für konspirative Treffen. Man begann damit, vor einer der Außenmauern von innen eine zweite, massive Wand zu errichten. Der so entstandene Hohlraum ist breit genug, um Platz für einen erwachsenen Menschen zu bieten. Was zunächst nur als Versteck bei eventuellen Durchsuchungen der Polizei gedacht war, wurde weiter ausgebaut. Ihre, die Wohnung im Parterre, in der heute die Sandows wohnen, und meine Wohnung sind durch ein Gängesystem miteinander verbunden. (Der Zugang im Parterre wurde allerdings nach dem Kriege zugemauert.) 1935 kam noch ein Fluchtweg hinzu. Er endet im Keller des Hauses nebenan. Auch dort hatten wir Verbündete. Leider hat man das Nachbarhaus mittlerweile zur Ruine verkommen lassen. Glauben Sie mir, Herr Gerling, ohne diese Idee meines Vaters wären einige Leute von der Gestapo verhaftet worden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass außer mir niemand mehr da ist, der von diesen Dingen weiß. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass das Haus längst nicht mehr im Besitz meiner Familie ist. Als ich durch Maria erfuhr, dass Sie über den Widerstand im Dritten Reich schreiben wollen, hielt ich es nun für angemessen, von dem Mut meines Vaters zu berichten. Er hat einen besonderen Platz in der Geschichte unserer Stadt verdient.
    Falls das Nachbargebäude einmal abgerissen wird und man dabei auf den Fluchtweg stößt, soll die Welt wissen, um was es sich da handelt. Ich habe die reizende Maria darum gebeten, Ihnen eine Kopie des Bauplans, der damals eigenhändig von meinem Vater gezeichnet wurde, zukommen zu lassen. Es ist eigentlich nur ein Teil des Gesamtplans, der sich auf Ihre Wohnung beschränkt. Der Zugang zum Fluchtweg ist mit einem unverfänglichen L (Meine geliebte Mutter trug den Namen Luise) markiert. Ich schreibe diese Zeilen in dem Wissen um meine momentane geistige Klarheit. Mir ist bekannt, dass sich dieser Zustand schnell ändern kann. Daher hoffe ich, dass ich bei einem weiteren Zusammensein in ähnlicher guter Verfassung sein werde.
    Hochachtungsvoll,
    Käthe Ahrens

    Richard versuchte das Gelesene in seinem vollen Umfang zu erfassen.
    Die Ratten stecken in dem Hohlraum zwischen den Mauern.
    Er las den Text erneut, konzentrierter als beim ersten Mal.
    Das ist keine Erklärung für den toten Kater auf dem Küchentisch.
    Der Plan

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