Zwillingsbrut
erwiderte Lois nachdenklich. »Möglicherweise war es wieder der mit dem dunklen Truck.«
Alvarez stellte noch ein paar weitere Fragen, doch mehr erfuhr sie nicht. Ms. Emmerson wusste nur wenig über Jocelyns Freundeskreis, doch sie nahm an, dass die meisten ihrer sozialen Kontakte über die Evergreen Elementary School zustande gekommen waren – eben mit Kollegen. Sie hatte von einer Schwester gehört, die irgendwo außerhalb des Bundesstaats lebte, genau wie die Eltern. Die beiden Frauen waren sich nur sporadisch am Briefkasten oder auf dem Grundstück begegnet, wenn Jocelyn zum Joggen gegangen war und Lois Kaiser Gassi geführt hatte, weshalb die Informationen, über die die alte Dame verfügte, äußerst bruchstückhaft waren.
Alvarez trank ihren Tee aus und wollte gerade aufstehen, um sich zu verabschieden, als Lois erwartungsvoll den Blick hob.
»Möchten Sie, dass ich aus Ihrem Teesatz lese?«
»Pardon?«
»Den Teesatz in Ihrer Tasse. Deshalb habe ich Ihnen lose Blätter gegeben – damit ich sie lesen kann!«
»Ach? Das können Sie?« Alvarez konnte es nicht fassen. Seit sie in Grizzly Falls lebte, hatte sie schon Ivor Hicks kennengelernt, einen Mann, der schwor, Außerirdische hätten ihn entführt und Experimente mit ihm durchgeführt, außerdem Grace Perchant, eine Frau, die angeblich mit Geistern sprechen und in die Zukunft blicken konnte, und jetzt diese … alte Dame, die aussah wie eine Bibliothekarin im Ruhestand und ihr die Zukunft aus Teeblättern vorhersagen wollte.
»Selbstverständlich kann ich das.«
»Bitte sehr«, sagte Alvarez ermunternd, doch Lois war bereits um den Kaffeetisch herumgekommen, um in die Tasse spähen zu können. Sie legte eine Serviette auf den Rand, drehte sie geschickt um, damit auch der letzte Tropfen Tee abfließen konnte, dann stellte sie die Tasse wieder ab und studierte eingehend die Blätter.
»Oh, nun … hmmm …«
Alvarez nahm sich fest vor, sich nicht ködern zu lassen.
»Das ist interessant«, fuhr Lois fort, und als Alvarez nicht reagierte, sagte sie: »Sieht so aus, als käme eine Veränderung auf Sie zu … vielleicht die Arbeit betreffend? Oder … nein. Da geht es wohl vielmehr um die Liebe. Ich sehe ein Herz in Ihrer nahen Zukunft, aber …« Sie runzelte die Stirn.
Frag nicht nach!
Doch die Worte sprudelten bereits aus ihrem Mund. »Aber was?«
»Gefahr ist auch zu sehen … Böses.« Sie deutete auf eine Schliere kleiner Blätter am Rand der Tasse. »Das ist die Gegenwart; und hier, das Herz, liegt ein Stückchen weiter in der Zukunft …« Eine ihrer ergrauenden Augenbrauen schoss in die Höhe. »Ein neuer Freund?«
»Das bezweifle ich.« Alvarez erhob sich und nahm ihren Mantel von der Stuhllehne.
»Sie scheinen zu den Skeptikern zu zählen.«
»Kommt darauf an, was Sie mir weismachen wollen.« Sie schlüpfte schon in die Ärmel, als Kaiser, der es sich unter dem Tisch bequem gemacht hatte, auf die Füße sprang. Wild kläffend raste er zu der Schiebetür, durch die man auf die Veranda gelangte. Dort stellte er sich auf die Hinterbeine und kratzte mit seinen Krallen am Glas, während er wie ein Verrückter jaulte und bellte.
»Aus! Kaiser! Hör sofort damit auf!«, befahl Lois, stand eilig von ihrem Sessel auf und ging schnellen Schritts zur Hintertür. »Was zum Teufel …? O mein Gott.« Sie schlug die Hand auf die Brust.
Alvarez folgte ihrem Blick und entdeckte eine verwahrlost aussehende Katze, die auf dem abgedeckten Verandatisch hockte und unverwandt durch die Glastür in die Wohnung starrte.
»Lieber Himmel, das arme Ding gehört Jocelyn! Ach du jemine, ich kann es nicht reinlassen, wegen Kaiser. Er würde die Katze in Stücke reißen … aber sie friert doch so!«
»Ich werde sie mitnehmen.«
»Aber nein! Ich lasse nicht zu, dass Sie sie in ein Tierheim bringen! Wir werden schon ein Zuhause für sie finden.« Lois bückte sich, entsetzt über diesen Gedanken, und hob den vor Aufregung zitternden Dackel hoch.
»Ich meinte, ich werde sie mit zu mir nach Hause nehmen.«
»Oh, das wäre … gut!«
Lois trug den sich windenden Kaiser aus dem Wohnzimmer, der noch immer so wild kläffte, als wäre ihm Satan persönlich erschienen. »Ich sperre ihn im Schlafzimmer ein«, rief sie über die Schulter, dann wandte sie sich an den Hund. »Du solltest es eigentlich besser wissen, Kaiser …« Ihre Stimme verklang, als sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Die Katze, deren Schnurrhaare gefroren aussahen, blickte
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