Zwillingsbrut
Morgen. Ab und zu überraschte Kacey ihn mit einem ausgefallenen Kaffeegetränk mit übertrieben vielen Extras, aber heute nicht.
»Oh, wie soll ich das nur überstehen?« Er spreizte eine Hand vor der Brust und blickte zur Decke, als warte er auf eine göttliche Eingebung.
»Es wird schwer werden, aber du wirst es schon schaffen«, neckte sie ihn. »Sei tapfer, okay?«
»Ich werde es versuchen.« Sein Lächeln, das weiße Zahnreihen vor seiner gebräunten Haut aufblitzen ließ, war ansteckend. Kein Wunder, dass die Hälfte aller Singlefrauen im County auf ihn abfuhr. Jetzt legte er seine oscarreife Pose ab und wurde wieder ernst. Ganz Allgemeinmediziner. »Hast du einen Blick in Amelia Hornsbys Patientenakte geworfen?« Martin kannte so gut wie jeden, der in die Klinik kam. Amelia war ein achtjähriges Mädchen, dessen Halsinfektion trotz mehrerer Antibiotika-Kuren nicht abheilen wollte.
Randy Yates, ein medizinisch-technischer Assistent, der gerade erst seine Ausbildung beendet hatte, schaute zur Tür herein. »He, Docs, auf geht’s!«, rief er grinsend. Sein braunes Haar war so kurz geschoren, dass der Schädel durchschimmerte, doch dafür trug er einen sorgfältig getrimmten Ziegenbart. »In Behandlungszimmer eins, zwei und vier ist alles vorbereitet. Vitalwerte sind auch schon gemessen.«
»Ich übernehme Mrs. Whitaker«, sagte Martin.
Kacey warf einen Blick auf die Karteikarte für Behandlungszimmer zwei. Elmer Grimes. »Ich bin in Nummer zwei«, rief sie dem MTA zu und machte sich auf den Weg zu ihrem ersten Patienten.
Detective Jonas Hayes vom LAPD traute dem Ganzen nicht, genauso wenig wie letzte Nacht, als er dem eingegangenen Notruf gefolgt und zu Shelly Bonaventures Apartment gefahren war. Er saß an seinem Schreibtisch vor dem Computer und klickte sich durch die Tatortfotos. Im Department war einiges los, Telefone schrillten, Gesprächsfetzen wehten zu ihm herüber, Kollegen eilten hin und her, Computertastaturen klapperten, und irgendwo spuckte ein Drucker Kopien aus.
Hayes nahm einen Schluck von dem Kaffee, den er sich bei einem Starbucks ein paar Straßen weiter gekauft hatte, und arbeitete sich durch die Aussagen von gestern Nacht. Wieder einmal. Er war sie gegen vier Uhr in der Früh schon einmal durchgegangen, und jetzt, fünf Stunden später, wollte er sie gründlicher unter die Lupe nehmen.
Seit er gestern Nacht Shelly Bonaventures Apartment betreten hatte, hatte er das Gefühl, dass nichts so war, wie es sein sollte. Der Tatort wirkte inszeniert und erinnerte an Marilyn Monroes mysteriösen Selbstmord von vor über fünfzig Jahren. Noch ein halbes Jahrhundert später kursierten Verschwörungstheorien, und der Verdacht, Marilyn sei ermordet worden, hielt sich hartnäckig. Eine solche Kontroverse wollte er bei Shelly Bonaventure vermeiden. Während seiner Dienstzeit würde so etwas nicht passieren.
Aber am Tatort war etwas faul gewesen, das hatte er deutlich gespürt. Und dieses Gefühl wollte nicht weichen.
Hayes, ein Rationalist, ließ nichts anderes als die harten Fakten gelten. Auf Bauchgefühle oder Ahnungen gab er nicht viel. Seiner Überzeugung nach konnte man allein anhand von Beweisen zum Kern eines Verbrechens vordringen.
Doch bei diesem Fall war das anders: Zum einen glaubte er nicht, dass Shelly, egal, in welcher geistigen Verfassung, völlig nackt den Notruf wählen würde. Wenn sie ihre Sinne noch so weit beisammenhatte, dass sie einen Anruf tätigen konnte, hätte sie sich zumindest einen Bademantel oder Ähnliches übergezogen. Oder war das ein Publicity-Trick? Heizte ihre Nacktheit die Neugier der Öffentlichkeit an? Hatte sie medienwirksam sterben wollen?
Aber wo zum Teufel war dann der Abschiedsbrief?
Hayes rieb sich den Nacken. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber er hatte auf Drängen seiner Ex-Frau Delilah schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Mein Gott, wie er die Kippen vermisste! Fast so sehr wie Delilah.
Stirnrunzelnd wandte er sich wieder dem Fall zu. Vermutlich würde der toxikologische Befund ergeben, dass sie einen Mix aus Tabletten und Alkohol im Blut hatte. Xanax, ein Mittel gegen Angst- und Panikstörungen, sollte sie ihre eigenen Medikamente genommen haben. Ein Röhrchen davon hatte direkt neben ihr auf dem Nachttisch gestanden. Nur drei Tabletten waren noch darin gewesen, und laut Etikettaufkleber war es erst letzten Samstag verschrieben worden.
Ganz offensichtlich hatte sie eine Überdosis genommen. Doch warum glaubte er nicht
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