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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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wie die Ruhe beim Spiel, bevor die entscheidende Karte ausgespielt wird. Inga dachte an bestimmte Menschen und wie sie die Nacht verbrachten – der schwarze Gabor, spielte er oder trank er, hatte er die dunkelste Nacht gewählt, um etwas von hier nach da zu befördern, Profit einzuheimsen? Sie stellte sich die Generalin in einem altmodischen Bett vor, trotz der Hitze schlief sie nicht nackt – ob auch die Kosigk die ungewöhnliche Stille bemerkte, ging sie ans Fenster, fiel ihr Blick auf den Riß in der Mauer, und hielten dahinter selbst die jagenden Tiere inne, saßen sie stumm an den Maschen aus Draht?
    Vergangenen Morgen – wie weit lag der zurück – war Alec ins Lager gekommen, weshalb, dachte Inga – um seine Papiere zu holen? Sie sah das hellgraue und das blaue Formular vor sich, den
Datumsstempel, Stempel der Kompanie und des Kommandanten, kreisförmig aufgehängt in der Stampiglie, alle drei waren nötig, um eine Entlassung gültig zu machen. Trug er die unterzeichneten Papiere schon bei sich, wer hatte sie ausgestellt, wer kam mit den Tükken der Schreibmaschine zurecht? Wußte Alec, daß Inga frei war, oder besaß ihre Entlassung nicht die Wichtigkeit, im Lager weitererzählt zu werden? Sie weinte, weil es so wenig Hoffnung gab, ihn, den Totenbleichen, vor seiner Heimkehr wiederzusehen. Umtriebig war es bei den Briten geworden – als säßen sie in ihrem selbsterrichteten Camp im Gefängnis, trachtete jeder, baldigst aufzubrechen. Auch Alec wollte heim, zur blassen Verwandtschaft, in die Zuckerbäckerei seines Vaters, und vielleicht – in dieser stillen Stunde fiel Inga zum ersten Mal ein, daß eine Frau auf ihn warten könnte. Eine, die sich das Haar machen ließ und ein Kleid kaufte am Tag, als sie von seiner Rückkehr erfuhr. Brachte er ihr etwas mit, reichte das Geld aus dem schwarzen Futteral, ein Ding aus Deutschland zu kaufen? Bierkrug, dachte Inga, Nippes, Schmuck, alles gab es zum Schleuderpreis, bereitwillig lieferte Gabor. Preis, wiederholte sie lautlos und schwankte, welche Lösung wahrscheinlicher war – daß die Engländer das Geld gefunden und in den Tresor zurückgepackt hatten, oder sie gaben die Suche auf, verbuchten die Summe unter Verlust, schlossen die Akte, verschnürten sie mit anderen und flogen sie außer Landes. Möglicherweise waren Inga, ihr Raub und das alte Geld zu unwichtig, um die Armee des Vereinigten Königreichs länger zu beschäftigen. Man sonderte aus, was entbehrlich war, man rückte ab.
    Allmählich verflog die Nacht, das Licht gab der Außenwelt Kontur, das Gesicht ihrer Mutter verlor das Traumartige, wurde grau und entfernter. Mir ist die Mutter gestorben, dachte Inga in immer neuen Verschlingungen, die Mutter, die ihr oft grausam erschienen war, weil sie vollzog, was der Vater nicht über sich brachte – Bestrafung. Die Horst liebevoller im Arm hielt, mit ihm kichernde Geheimnisse verbarg. Die Mutter, die Inga wie eine Schwester behandelte, seit sie ihr die ersten Schuhe mit hohen Absätzen geschenkt
hatte. Die zierliche Marianne im gelben Sessel, die kleine Königin, von der alles Leben im Haus ausging – ein Haus, das ihrer nicht würdig gewesen war.
    Inga wünschte sich ins Freie. Ihr Vater lag seitlich zu Füßen Mariannes, einen Speichelfleck auf dem Hemdkragen. Inga blies die Kerzen aus, das Kleid klebte an den Beinen, sie verwarf den Gedanken, sich umzuziehen, ließ Erik schlafen und lief in den Garten. Die kühle Luft war wie neu, Inga sprang durch das kniehohe Gras, blieb am Hügel des toten Lammes stehen – wie früh es auch war, sie mußte sich um das Begräbnis kümmern. Sie verließ das Grundstück, rannte die Straße hinunter, zweimal rechts, und sie würde auf das Portal des Bestatters stoßen.
    Beim ersten Laster mutmaßte sie nichts, oft waren Transporte früh unterwegs; beim zweiten und dritten wurde sie aufmerksam, Papier auf den Ladeflächen, gestapelt, gebündelt, englische Uniformen, Militärpolizei davor und dahinter, sie schickten aus, Papier wurde abgeworfen, andere Soldaten kamen und verteilten. Sie überzogen die Stadt mit der Neuigkeit, keiner sollte hinterher sagen, er sei nicht verständigt worden. Dicht vor Inga fiel ein Bündel auf den Weg, ein Corporal stand bereit, zerschnitt die Schnur und reichte ihr, was andere in den

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