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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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solange man höflich blieb. Mama hätte liebend gerne mit Alec geraucht, dachte Inga, stundenlang hätten sie über einfache Dinge gesprochen, und doch wäre es eine elegante Unterhaltung gewesen, ein Lächeln wäre von ihrem Gespräch ausgegangen.
    Der Vater setzte sich zu seiner Frau. Die Worte nahmen keine Gestalt an, ein kleiner Sarg, verstand Inga schließlich, er hatte recht, viel Platz würde Marianne nicht in Anspruch nehmen. Es gab einige Bestatter in der Stadt, zwei fielen ihr dem Namen nach ein; die Aufträge, hieß es, gingen allmählich zurück.
    Â»Wir sollten niederschreiben, was zu tun ist.« Sie zog die Schublade auf, die Canastakarten lagen zuoberst, Inga wog sie in der Hand, nahm den Block darunter, riß das Blatt mit dem letzten Spielstand ab, wollte es zerknüllen – Mutters Schrift –, sie legte das Papier in die Lade zurück. »Morgen ist Sonnabend«, fiel ihr ein. »Niemand kommt sonnabends, niemand wird sich kümmern.«
    Â»Gut«, sagte der Vater und nahm die kleine Hand. »Es hat Zeit, Marianne.«

    Die ausgestreckte Frau, das Tuch mündete in zwei Zipfeln über ihrer Stirn, der Mund war leicht geöffnet. Heute Nacht, dachte Inga, wenn Mama zugedeckt ist und wir zu Bett gegangen sind, werden wir davon träumen, daß alles ist wie immer.
    Erik ging zur Anrichte und klappte sein Messer auf. Er nahm den ersten Kerzenleuchter, brach den Stumpf ab und kratzte Wachs aus der Höhlung; mit jedem Leuchter verfuhr er genauso. Inga holte neue Kerzen aus dem Schrank; sie würden heute nicht schlafen, statt dessen bei Marianne sitzen und das Licht über ihre Züge flattern sehen. Sie zündete den Docht an, hielt ihn nach unten, stellte den Leuchter darunter, ein gelblicher Tropfen fiel.
    Niemand durfte ohne Begründung schuldig gesprochen werden, dachte sie – doch galt das auch für den Unschuldsspruch ? Ihr war nichts erklärt worden, keine Angaben wurden gemacht, bis auf die nüchterne Mitteilung, sie werde entlassen. Würde es eine Eintragung ins Register geben, bekam sie ihre alte Stellung wieder, oder wie waren die Worte des Sergeants – Sie können gehen, Inga  – zu verstehen? Nach Tagen und Nächten wie den vergangenen wäre jede andere froh gewesen, frei zu sein; sie aber fühlte sich als Opfer eines unerklärlichen Justizirrtums. Papiere folgen, hatte der Unteroffizier noch gesagt und sie aus dem Lager geschickt.
    Das Wachs füllte die Höhlung fast aus, Inga drückte die Kerze hinein, wartete, bis das Wachs erkaltete, und trug den Leuchter auf den Tisch neben Mutters Bett.
    Â»Was sollen wir nur tun?«, sagte Erik. Es schüttelte ihn so sehr, daß er die Streichholzschachtel nicht halten konnte. »Was sollen wir tun?« fragte er seine Frau, nahm die Brille ab und wischte sich übers Gesicht. Blind starrte er auf den lieben Kopf, die Gestalt, legte seine Hand auf ihre Brust, als erwarte er, ihr Herz wieder schlagen zu spüren.
    Â»Ich habe mich –« Die Luft fuhr aus ihm heraus. »Mich immer vor ihr geschämt.« Er weinte in kindlichen Tönen. »Geschämt, Marianne –«
    Inga sah zu, wie er den Kopf in ihrem Schoß vergrub.

    Â»Wir sollten essen«, sagte sie, als alle Kerzen brannten. Blind schaute Erik in ihre Richtung, die Brille lag in einer Falte der Decke verborgen. Sie verließ das Zimmer, in dem es nach Kunstwachs zu riechen begann. Allein in Vaters Reich, konnte sie sich nicht erinnern, wann er sich hier je hatte vertreten lassen. Inga öffnete den Vorratsschrank, fand Brot und begann Gemüse zu schneiden.

35
    A ls sei es die Totenwache für Marianne, hielt in dieser Nacht alles still, die Stadt legte jede Bewegung ab. Obwohl Vater und Tochter bei offenem Fenster saßen, raubten ihnen die Kerzen die Luft, es wurde nicht kühler. Inga fragte, ob man Mutter einen weiteren Tag so liegen lassen könne; Erik weigerte sich, sie in den Keller zu tragen. Die Nacht blieb ohne Hundegebell, kein Transport fuhr durch die Straßen, nicht einmal Grillen waren zu hören.
    Â»Neumond«, sagte Erik, als Inga ihn darauf aufmerksam machte. »Menschen sterben bei Neumond.«
    Es war nicht die Finsternis über den Dächern, nicht das Fehlen der Stadtgeräusche, es war auch nicht die Stille nach dem unbegreifbaren Ereignis – was geschah, wies auf Kommendes hin, kündigte etwas an,

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