Zwischen den Zeilen
damaligen Altersgenossen als Klosterschüler beherbergt hatten.
Kein Vergleich also zu den gerade mal zwanzig Jahre alten, dagegen hochmodernen Betongebäuden der Oberstufe. Aber gar nicht so wenige hier oben sehnten sich aus unerfindlichen Gründen eben genau in den asketischen alten Klostertrakt zurück, obwohl man dort oft zu den Toiletten und Duschen gar nicht so selten bis zu drei Etagen hinab in den Keller steigen musste. Obwohl sie doch eigentlich sehr froh darüber hätten sein müssen, sich jetzt nach erfolgreich abgeschlossener Zehnter Klasse endlich zur Aristokratie der Schule zählen zu dürfen.
Dass dem aber oft überhaupt nicht so war, dafür sorgte schon das, was man in der Fachsprache mit intragruppenspezifischen Disziplinierungsmaßnahmen innerhalb der Schülerschaft zu bezeichnen pflegt.
Denn die Neuen an der Oberstufe begannen nun hier in den neuen modernen Zweckbaugebäuden ihren neuen schulischen Lebensabschnitt in der neuen Hackordnung erst einmal wieder ganz unten. Für viele von ihnen war das hart. Extrem hart, denn etwas weiter unten im kultivierten und trotz aller Spartanität sehr herzwärmenden ehemaligen Kloster waren sie im abgelaufenen Schuljahr als Zehntklässler noch ganz woanders, nämlich am oberen Ende der Hierarchie gestanden.
Dieses Bewusstsein, dieses Gefühl wurde ihnen nun traditionsgemäß schon in ihren ersten Wochen hier recht radikal und manchmal auch durchaus rustikal ausgetrieben.
Das spezifische System ist dabei von den Jugendlichen hier in der Oberstufe schon so weit internalisiert worden, dass sie es selbst für sich innerhalb ihres eigenen hierarchischen Systems übernommen haben. Obwohl ich natürlich nach wie vor fest der Überzeugung bin, dass es auch in Internaten mit einer rein monoedukativen Ausrichtung der Lebenssituation (ebenso wie in den einschlägigen Jugendstrafanstalten) nicht mehr schwule Jugendliche gibt als anderswo, war es hier in der Oberstufe nun am Anfang des neuen Schuljahres aber doch auf einmal schon so, dass fast alle der Jugendlichen hier irgendwie immer etwas mit jemandem oder auch zu mehreren miteinander hatten. Bei meinem letzten Praktikum im vergangenen Winter konnte ich das so noch nicht beobachten. Ob dies nun darin begründet lag, dass sich die Jugendlichen das Leben in den tristen, absolut unästhetischen Betonbauten nach dem Ende der Ferienzeit etwas seelenvoller gestalten wollten oder schlicht und einfach daran, dass es an diesem abgeschiedenen Ort halt schon naturgemäß einfach nirgendwo Mädchen gab, will ich nun einmal dahin gestellt lassen.
Nach wie vor beschäftigt mich auch heute noch, was damals in diesen Wochen passiert ist. Vielleicht mag inzwischen auch die eine oder andere unbedeutende Kleinigkeit in meiner Erinnerung etwas verblasst sein. Aber ich habe bei jedem meiner Praktika penibel Tagebuch geführt, schon um dann für meinen späteren Bericht in meiner Seminargruppe dann alles präzise festzuhalten. So erweckt ein kurzer Blick auf eine damaligen handschriftlichen Notizen in einem schlichten DIN-A5-Schulheft die Ereignisse von damals sehr plastisch wieder zum Leben. Und auf meine Rolle dabei kann ich nun leider wahrlich wirklich nicht stolz sein.
Schon am Ende der ersten Woche des neuen Schuljahres fiel mir also diese plötzliche, sehr starke Veränderung in den Verhaltensweisen meiner jetzt völlig neu zusammen gewürfelten Gruppe auf. Es blieb mir nicht verborgen, dass die Jugendlichen sich untereinander plötzlich sehr viel näher kamen, als es ihrer eigentlichen Veranlagung entsprach und auch, als es selbst bei den typischen und weit verbreiteten Experimenten, die für dieses Alter gar nicht ungewöhnlich und eigentlich etwas vollkommen Normales darstellen, angemessen war.
» Das legt sich genauso schnell wieder, wie es über sie gekommen ist«, war der lapidare Kommentar meines Vorgesetzten. »Abwarten und einfach gar nichts tun, okay Herr Bauer?« Offenbar stellte sich dieses exzessive Verhalten zu jedem Schuljahresanfang für einige Wochen ein. Die Neuankömmlinge aus der Mittelstufe vom Kloster wurden dann ganz offenbar in der so genannten Klosterwoche hier auf eine ganz besondere Art und Weise »willkommen« geheißen.
Ich musste dabei an Florian denken, den ich in meinem letzten Praktikum hier kennen gelernt hatte. Für ihn musste diese so genannte Klosterwoche ja wahrlich wie eine Befreiung sein. Oder vielleicht doch eher ein Fluch, wenn seine Mitschüler merkten, welche Last hier nun
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