Zwischen den Zeilen
mich selbst doch eigentlich als recht streng, konsequent und auch unnachgiebig im damaligen Umgang mit ihnen fand. Das musste auch sein, das war schlicht unvermeidlich, wenn man hier professionell arbeiten und Berufliches und Privates eben gerade nicht miteinander in einen Topf werfen wollte.
Aber wie auch immer. Eine Tätigkeit an einer so erlauchten Institution wie dieser Schule hier machte sich immer gut im Lebenslauf, ganz besonders wenn ich an die durchweg ausgezeichneten Beurteilungen meines ersten Praktikums vor einem halben Jahr hier zurück blickte.
Dem hautamtlichen Leiter von Gruppe Drei war es den ganzen Rest des inzwischen abgelaufenen Schuljahres ein völliges Rätsel geblieben, wie ich beispielsweise Nicki ganz plötzlich von der Notwendigkeit knapp gestutzter Kurzhaarfrisuren und der vollständigen Aufgabe seiner exzessiven Kifferei und seines ausschweifenden Zigarettenkonsums hatte überzeugen können.
Daran hatten sich all die Jahre zuvor hier an ihm schon ganze Regimenter von prädikatsexamierten Pädagogen erfolglos abgemüht und waren samt und sonders an Nickis widerborstiger pubertärer Protesthaltung gescheitert.
Umso erstaunlicher war es dabei auch, dass Nicki seine neuen Gewohnheiten auch dann noch beibehielt, als ich nach meinem ersten Praktikum schon längst wieder an der Universität war. Also der Transfer von extrinsischer Motivation in intrinsische Motivation, um einmal die Fachausdrücke zu bemühen. Aber die Details aus den Lehrbüchern sollen uns hier nicht weiter aufhalten.
Ich schien demnach die Jugendlichen hier sehr positiv auf einer Ebene zu erreichen, zu der das Stammpersonal schon längst keinen Zugang mehr hatte. Auf mich hörten sie anscheinend, auch ganz ohne Strafandrohungen und äußeren Druck. So dachte man zumindest über mich im Kollegium und befürwortete dann schließlich trotz vieler anderer Bewerber am Ende einstimmig meinen zweiten Besuch.
Natürlich wusste ich insgeheim, dass es für mich vielleicht schon irgendwie besser gewesen wäre, den Rest meiner Sommersemesterferien am Strand zu liegen oder zusammen mit meinem inzwischen endlich vom anderen Ende der Welt zurückgekehrten Freund in unserem geliebten Skoldnaes Segeln zu gehen, aber als ich die Einladung in meinem Briefkasten fand, verschwendete ich nicht eine einzige Sekunde einen Gedanken daran abzusagen. Ich freute mich schon unglaublich darauf, endlich Nicki wieder zu sehen. Seit ich damals im ausgehenden späten Winter mehrere Wochen auch mit ihm sehr eng und intensiv in Gruppe Drei zusammen gelebt und mehr oder minder auch zusammengewohnt hatte (als Gruppenerzieher hat man letztlich ja kein wirkliches Privatleben mehr), schien der Schmerz wegen des Unglücks, das meinen Bruder heimgesucht hatte, nun doch wirklich ganz allmählich mehr und mehr nach zu lassen. Etwas, woran ich zuerst aber gar nicht wirklich glauben mochte. Doch es war eben gerade nicht die so oft und so viel beschworene Zeit, die dieser immer noch blutenden Wunde nach und nach immer etwas mehr Linderung verschaffte. Nein, es war allein Nicki, der dies vollbrachte. Auch wenn wir uns nun fast ein ganzes halbes Jahr lang nicht mehr persönlich gesehen hatten. Er war gut für mich. Das spürte ich. Jeden Abend vor dem Einschlafen fühlte ich mich ihm immer wieder aufs neue so nahe, wie wenn ich immer noch persönlich die strikte Einhaltung der Schlafenszeiten in seiner Gruppe kontrollierte. Und ich war mir sicher, nein ich wusste es, ihm ging es genauso, jedesmal nachdem das Licht gelöscht worden war.
Wie jeden Herbst aufs neue kamen auch am Anfang dieses Schuljahres wieder die neuen Elftklässler in den Oberstufenbereich des Internats. Eigentlich war es paradox, denn die Oberstufe war separat auf einer kleinen Anhöhe in drei miteinander verbundenen, unangenehmen Gebäudeteilen aus den 1970er Jahren untergebracht. Flachdächer. Zweckbau. Grauer Waschbeton. Grausam.
Die Mittelstufenschüler wohnten dagegen etwas tiefer im ehemaligen Kloster, dessen unbequeme, aber historisch über eine sehr, sehr lange Zeitspanne organisch gewachsenen und dabei oft viele Jahrhunderte alten einzelnen Bauwerke -trotz der natürlich inzwischen erfolgten Renovierungen- eine ganz andere wohlgebaute Atmosphäre ausstrahlten, einen ganz anderen Geist zu atmen schienen. Zum Teil wohnten die Schüler dort zu zweit oder auch zu dritt zusammen in oft winzigen Zimmerchen, die schon damals zur Glanzzeit dieses Ordens vor über sechshundert Jahren ihre
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