Zwischen den Zeilen
mitgemacht, obwohl ich ihn doch vielleicht besser als jeder andere vom Personal hier hätte verstehen und daher auch schützen müssen.
Als studentische Hilfskraft im Praktikum (so die offizielle Beschreibung meiner Position) hat man aber dennoch einen entscheidenden Vorteil: Man ist mit einundzwanzig nicht mehr Schüler, aber auch noch kein vollwertiger Erzieher oder Lehrer, sondern irgendetwas genau dazwischen, mit dem Ergebnis, dass einem beide Seiten glauben, einem vertrauen zu können.
Die Bar im Partykeller der Oberstufenschüler, der im Jargon der Schüler schlicht und politisch so völlig unkorrekt Arierkeller genannt wurde, schloss um 23:30 Uhr. Mit meinen dienstfreien Kollegen bin ich dann unten im Dorf im einzigen Lokal noch ein alkoholfreies Bier trinken und zusammen eine große Pizza essen gegangen, so wie es an jedem Samstag hier seit vielen Jahren Brauch war … Dieses Lokal hatte sowieso nur an Samstagen und Sonntagen geöffnet. Der Wirt war hauptberuflich Beamter bei der Außenstelle der Gemeindeverwaltung hier unten im Dorf.
Gegen 00:15 Uhr waren wir dann zurück in unseren Wohnungen. Nicht alle vom pädagogischen Personal wohnten dabei aber auch wirklich im Internat. Neben denjenigen, die eine der Gruppen im Wohnbereich leiteten, wohnten da eigentlich nur noch insgesamt so an die zehn bis zwölf Lehrer und Erzieher. Die Lehrer dabei aber in einem Extrahaus. Ich als Praktikant hatte eines der Gästeappartements im Südflügel. Dort wohnten neben mir nur noch diejenigen Lehrer, die als Wochenendpendler jedes Wochenende nach Hause fuhren und daher neben dem Unterrichten keine weiteren Aufgaben im Wohnbereich der Schüler wahrnahmen und auch in den Dienstplänen für den Samstagunterricht somit nicht berücksichtigt werden konnten. Von Freitag Nachmittag bis Sonntag Abend residierte ich daher im Südflügel so meist allein und relativ weit ab ……
Pünktlich um Eins war ich wieder unten im Arierkeller. Dort warteten schon einige der Schüler im Trainingsanzug und in Turnschuhen. Ansonsten war alles völlig normal. Wie bei einer nicht so ganz regelkonformen Ausweitung der Öffnungszeiten der Oberstufenschülerbar. Zumindest in den Nächten von Samstag auf Sonntag wurde das sogar auch meistens toleriert. Kein Betreuer schleppte sich deswegen jetzt auch nochmals aus seinem Bett heraus nach unten, um eine neuerliche Grundsatzdiskussion um die genaue Auslegung unserer Hausordnung vom Zaun zu brechen. An den Wochenenden gelten die oben festgelegten Zeiten als Richtwerte für weitere eigenverantwortliche Vereinbarungen zwischen den Schülern der Oberstufe und dem pädagogischen Personal , stand dort etwas blumig niedergeschrieben. Also alles Auslegungssache. Zumindest im Prinzip. Schon wieder war hier wohl ganz offensichtlich die Fähigkeit gefragt, zwischen den Zeilen lesen zu können.
Ich hätte mich wohl auch besser schlafen gelegt. Schließlich war ich schon vorher den ganzen Abend lang hier unten im Partykeller herumgesessen und hatte auch eine sehr anstrengende Woche hinter mir.
Dann kam Sebastian und meinte, »okay gleich kommen die Neuen runter.« Und ich fragte, »gut, und wissen die, was sie hier erwartet? Wie habt Ihr sie überredet?«
Sebastian grinste nur und rief Leif, der mir erklärte, sie hätten allen Neuen alles erzählt und sie vor die Wahl gestellt: Bann oder Mitmachen, ohne weiter zu fragen. Allerdings meinte einer der neuen Elfer, er würde sich ganz sicher nicht ausziehen wollen. Der würde deshalb jetzt gleich einmal als Allererster bestraft werden.
Dass der Partyraum der Oberstufenschüler schulintern Arierkeller genannt wurde, ging auf eine Zeit zurück, als der Partyraum im inzwischen abgerissenen alten Gebäude für die Oberstufenschüler offiziell noch Bierkeller hieß. Damals in den 1950er und frühen 1960er Jahren fanden gar nicht so wenige Lehrer mit einer problematischen politischen oder militärischen Vergangenheit hier an dieser Schule wieder eine Anstellung, die man deswegen sonst nirgendwo anders mehr beschäftigen wollte. Einzige Bedingung, sie durften sich nicht politisch im Unterricht äußern und sollten sich rein auf ihre Lehrtätigkeit konzentrieren. In Mathematik, Physik, Chemie und ähnlichen Fächern wohl nicht wirklich ein Problem. In anderen Fächern dagegen manchmal eine schwierige Gratwanderung.
So traf sich dieser Personenkreis dann immer am Abend, wenn sich die Schüler während ihrer vorgeschriebenen Schlafenszeiten erholten, ganz
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