Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
Kälte des Winters
Albany, New York State, Montag, 9. Dezember
Der lokale Wetterbericht hatte für den Wochenbeginn milderes Wetter verheißen, jedoch vergessen, den Schnee zu erwähnen. Als Johansson am Montagmorgen erwachte, wirbelte der vor dem Schlafzimmerfenster des Professors herum, und als Norrländer wusste er sofort, dass es Probleme beim Fahren geben konnte. Seine Gastgeberin Sarah schien zu demselben Schluss gekommen zu sein, obwohl sie in Manhattan geboren war.
»Jesus«, sagte sie. »Haben Sie den Schnee gesehen? Jetzt müssen wir uns aber beeilen, sonst verpassen Sie Ihren Zug.«
Johansson hatte geduscht, sich angezogen und seine wenigen Habseligkeiten in die praktische Schultertasche aus dem FBI-Laden gesteckt. Dafür brauchte er eine Viertelstunde, und als er die Küche betrat, erwartete seine Gastgeberin ihn schon mit dem Frühstück. Frisch geduscht, sauber und gut aufgelegt, wie ihr Äußeres verriet. Offenbar brauchte sie zum Anziehen nicht so lange wie Johansson, denn als sie ihn geweckt hatte, hatte sie noch einen Morgenrock getragen.
Ein überaus merkwürdiges Frauenzimmer, dachte Johansson, und das war in Ängermanland ein hohes Lob.
»Wie wollen Sie Ihre Eier?«, fragte Sarah.
Es gab Rührei, gebratenen Schinken, Toast, frisch gepressten Apfelsinensaft und eine große Tasse Kaffee, während er von einer munter plaudernden Sarah unterhalten wurde, die von Schneestürmen und anderen lokalen Unwettern in Albany und Umgebung erzählte, die sie während ihres nicht allzu langen Lebens erlebt hatte. Und so weit war ja alles gut und schön, doch dann kam die Niederschlagsmenge zur Sprache, und das Elend nahm seinen Lauf.
Die Bank lag nur wenige Kilometer entfernt. Sarah benutzte die in der Nähe der Universität gelegene Filiale der Citibank, aber da der Volvo Sommerreifen hatte und die Welt hinter den Fenstern weiß wie Schnee war, mussten sie allerlei Rutsch- und Schleuderpartien über sich ergehen lassen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Aber in der Bank war es ruhig und warm, und sie waren fast die einzigen Kunden.
»Was für ein Wetter«, sagte Sarah gelassen, während sie die Kapuze ihres bodenlangen roten Wollmantels zurückstrich.
»Sieht nach weißen Weihnachten aus«, sagte die Kassiererin mit freundlichem Lächeln. »Bleibst du hier oder fährst du nach New York?«
Die kennen sich offenbar schon lange, dachte Johansson mechanisch. Wenn sie jetzt nur nicht so lange quatschen. Nervös und verstohlen schaute er auf seine Armbanduhr.
Das Gequatsche beschränkte sich auf ein höfliches Minimum. Danach schrieb Sarah ihren Namen und ihre Safenummer auf einen Zettel und reichte ihn mit strahlendem Lächeln einer älteren Sicherheitswache, die einige Meter von ihnen entfernt am Eingang stand. Gleichzeitig nickte sie erklärend zu Johansson hinüber.
»Er ist mit mir zusammen hier«, sagte Sarah. »Das ist mein neuer Assistent.«
Der uniformierte Wachmann lächelte Sarah väterlich und Johansson eher neutral an, und zwei Minuten später standen sie im Keller der Bank, wo Sarah den Schlüssel in einen der größten Safes steckte.
Ob das wohl der Schlüssel aus dem Schuh ist?, überlegte Johansson.
»Dann wollen wir doch mal sehen«, sagte Sarah.
Sie zwinkerte Johansson verschwörerisch zu, während sie mit vereinten Kräften die Schublade herauszogen und auf den in der Nähe stehenden Tisch stellten.
»Wer schaut zuerst rein, Sie oder ich?«, fragte Sarah und kicherte.
»Das ist Ihr Safe«, sagte Johansson. »Nur zu.«
Sarah schüttelte den Kopf und lachte.
»Nein, Sie«, sagte sie. »Das ist mein Weihnachtsgeschenk.«
Papier, nur Papier, und um einiges weniger, als er sich das vorgestellt hatte, aber immerhin war es ein Stapel von gut und gerne zwanzig Zentimetern, bestehend aus Plastikfolien und dünnen Ordnern, von denen zumindest einer ziemlich alt aussah.
»Das hier ist offenbar das Manuskript zu seinem Buch«, sagte Sarah, die schon zwischen den Blättern herumwühlte. »Es ist sogar dicker, als ich erwartet hätte«, kicherte sie und reichte ihm einen Stapel von an die hundert mit Maschine beschriebenen Blättern, die in eine Plastikhülle gestopft waren.
Johansson griff danach, blätterte rasch hindurch und überflog die Seiten. Titel und Autorenname waren in Großbuchstaben auf die erste Seite geschrieben. »The Spy that went East« von John P. Krassner, las Johansson. Vorwort, Inhaltsverzeichnis und voll geschriebene Seiten, jedenfalls zu Beginn.
Weitere Kostenlose Bücher