Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
nicht die geringste Chance.
»235 hier. Wir hören«, teilte Oredsson mit. Allzeit bereit, wie es seine Art war.
*
Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der pensionierte Jurist mit der Dienst habenden Beamtin in der Polizeizentrale telefonierte, verließ Kriminaldirektor Lars M. Johansson, stellvertretender Chef des Landeskriminalamts und M für Martin, seine Wohnung in der Wollmar Yxkullsgatan in Södermalm. Johansson ging mit raschen Schritten und in bester Stimmung die Straße entlang, unterwegs zu seinem ersten Stelldichein mit einer Frau, die sehr gut aussah und vermutlich auch eine unterhaltsame Gesprächspartnerin sein würde. Das Stelldichein sollte in einem in der Nähe gelegenen Restaurant stattfinden, wo hervorragend und preiswert gekocht wurde. Es war ein kalter, sternklarer Abend ohne den geringsten Schneefleck in den Straßen, und das alles war fast eine ideale Kombination für jemanden, der einen klaren Kopf, gute Laune und zugleich trockene Füße behalten will.
Lars Martin Johansson war ein allein stehender Mann. In juristischer Hinsicht war er das seit dem nun schon fast zehn Jahre zurückliegenden Tag, an dem seine erste und bisher einzige Gattin ihn verlassen hatte. Sie hatte die beiden Kinder mitgenommen und war zu einem neuen Mann gezogen, um in einem neuen Haus ein neues Leben anzufangen. In seelischer Hinsicht war er sein Leben lang allein gewesen, obwohl er mit sechs Geschwistern und zwei Elternteilen aufgewachsen war, die sich mehr als fünfzig Jahre zuvor kennen gelernt hatten, noch immer miteinander verheiratet waren und das auch bleiben wollten, bis dass der Tod sie scheide. Johansson hatte die Einsamkeit also nicht etwa geerbt. Als Kind hatte es ihm an Geborgenheit, Nähe und Gesellschaft nicht gefehlt. Das alles hatte es im Übermaß gegeben, und es war immer noch zu haben, wenn er das wollte, aber als er als Erwachsener seine Erinnerungen nach glücklichen Kindheitserlebnissen durchforstete, fand er die nur in den Momenten, in denen er wirklich seine Ruhe gehabt hatte. Wenn er einsam auf der Bühne gestanden hatte, als einziger Mitwirkender im Stück, nur er.
Zu behaupten, dass Johansson seine Einsamkeit genossen hätte, wäre eine ziemliche Untertreibung gewesen. Den allgemein gültigen Maßstäben für menschliches Zusammenleben zufolge war die Lage noch viel schlimmer. Einsamkeit war die notwendige und entscheidende Voraussetzung dafür, dass Johansson überhaupt funktionierte, sowohl in der schlichten menschlichen Bedeutung, bei der es darum ging, aus allen Tagen ein anständiges Leben zusammenzuschmieden, als auch in der rein beruflichen, wo es galt, seine Pflicht zu tun, ohne Rücksicht auf Verwandtschaft, Freundschaftsbande oder Gefühle ganz allgemein. Und in diesem Sinn war sein Leben fast vollkommen verlaufen, seit seine Gattin ihn verlassen und die Kinder mitgenommen hatte.
Zwei Jahre nach der Scheidung hatte seine damals sieben Jahre alte Tochter ihm zu Weihnachten eine LP geschenkt, »A Lonely Man« von Elton John, und abgesehen davon, dass jemand oder etwas sein Herz gepackt hatte, als er den Text auf dem Cover las, hatte er das für eine ungewöhnlich gute Menschenkenntnis bei einer erst Siebenjährigen gehalten. Weshalb diese Person später sicher zu einer überaus starken und selbstständigen Frau heranreifen würde – oder zu einer, die Gefahr lief, an ihren eigenen Erkenntnissen zu zerbrechen.
Was jedoch die ganze Gleichung ins Wanken brachte, dieses sichere, kontrollierte, vorhersagbare Leben, war sein Interesse an Frauen: an ihrem Duft, ihrer weichen Haut, der Grube im Nacken zwischen dem Haaransatz und dem schmalen Hals. Dieses Interesse suchte ihn nachts im Traum heim, und er konnte sich nur dadurch wehren, dass er seine Bettdecke mitten im Bett zu einem schweißnassen Strang zusammendrehte, und es suchte ihn am helllichten Tag heim, wenn er hellwach, stocknüchtern und glasklar im Kopf seinen Nacken verrenkte, allein wegen eines geraden Rückens und zweier brauner Beine, die er nie wieder sehen würde.
Es suchte ihn auch jetzt heim, als er einen halben Arm entfernt am Tisch in einem Restaurant saß, wo hervorragend und preiswert gekocht wurde. Er hatte die Frau zwei Tage zuvor kennen gelernt, als er für eine Gruppe von Polizeichefs mit juristischer Ausbildung einen Vortrag über die Arbeit beim Landeskriminalamt gehalten hatte. Die Frau verzehrte ihre Pasta mit Krustentieren und Pilzen mit sichtlicher Begeisterung, und darüber freute er
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