Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
Klassenfotos vom Gymnasium, aus Kopien seines Führerscheins und seiner Universitätsexamina, aus dem Totenschein der Mutter und einer ansehnlichen Menge von Kopien seiner Zeitungsartikel. Ganz unten fand Waltin außerdem die Todesanzeige seines Onkels und eine Kopie des Testaments seiner Mutter, und damit wurde die Sache nun wirklich interessant.
Der Onkel, John Christopher Buchanan, genannt John, war 1908 in Newark, New Jersey, geboren und am Dienstag, dem 16. April, nachmittags in seinem Haus in Albany »ruhig entschlafen«, fast genau ein halbes Jahr, bevor Waltin sich nun seinem Leben und Werk zu widmen begann. Nach der Schule hatte er sich an der Columbia-Universität immatrikuliert und 1939 im Fach Staatswissenschaft promoviert. In der Zeit vor Pearl Harbor arbeitete er als Dozent an der Northwestern University bei Chicago, doch als »der wahre Patriot, der er nun einmal war« hatte er danach die akademische Welt sofort verlassen und eine Ausbildung zum Reserveoffizier angetreten.
Nach einem nicht näher spezifizierten Stabsdienst in Washington DC war er gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Dienstgrad eines Captains nach Europa versetzt worden. Drei Jahre darauf, im Frühjahr 1947, war Oberstleutnant Buchanan zum stellvertretenden Militärattaché an der US-Botschaft in Stockholm ernannt worden, einem Posten, den er vier Jahre lang bekleidet hatte. Danach war die Lage eher unklar, doch 1958 hatte er dann im Rang eines Obersten das Militär verlassen, um als Professor für »zeitgenössische europäische Geschichte« an der New York State University in Albany das akademische Leben wieder aufzunehmen. In dem Jahr, in dem seine zwölf Jahre jüngere Schwester an Krebs gestorben war, 1975, und vermutlich ohne einen weiteren Zusammenhang, war er emeritiert, um »mit dem Recht des Alters und nach einem ehrenvollen Leben im Dienste der Nation seinen wohlverdienten Lebensabend zu genießen«.
Ob er wohl gesoffen hat?, dachte Waltin. Sonst hätte er doch sicher mehr geleistet.
Vor allem sein Testament war interessant. Nach der einleitenden und obligatorischen Aufzählung seiner Hinterlassenschaft, des Hauses, in dem er wohnte, allerlei flüssige Mittel auf Bankkonten und in Pensionsfonds, seiner Bibliothek, einer Sammlung »europäischer Militaria aus dem Zweiten Weltkrieg«, von Möbeln, Kunstgegenständen und anderen beweglichen Dingen, hatte John C. Buchanan »meine gesamte Hinterlassenschaft, sowohl die materielle als auch die intellektuelle, meinem nächsten Verwandten, lieben Freund und getreuen Waffenträger John P. Krassner« vermacht.
Die materielle Hinterlassenschaft war leicht zu berechnen gewesen. Das Gerichtsprotokoll setzte sie auf 129 850 Dollar und fünfzig Cent fest, nach Abzug von Bestattungskosten, Erbschaftssteuer und anderen Gebühren, und nach Berechnung der Detektei war die Summe wohl mindestens doppelt so hoch, was auf den üblichen steuertechnischen Tricks beruhte, die immer dann zum Tragen kamen, wenn ein nicht ganz bettelarmer Schlucker sein irdisches Dasein beendete. Worin die intellektuelle Hinterlassenschaft bestand, wurde jedoch mit keiner einzigen Zeile erwähnt.
»Aber das ist doch fantastisch«, murmelte Kriminalassistentin Eriksson und lächelte ihren gut angezogenen Chef strahlend an. »Wie hast du das denn geschafft?« Der muss ja wirklich clever sein, dachte sie.
Waltin lächelte verlegen und zuckte ein wenig abwehrend mit den Schultern.
»Darüber können wir später noch sprechen«, sagte er. »Ich dachte, du könntest Berg Kopien von allem machen und samt deinen Ergebnissen vorbeibringen.«
Klasse, dachte Eriksson. Das kann im Moment wirklich nicht schaden.
Berg war nicht gar so entzückt.
»›Meine gesamte intellektuelle Hinterlassenschaft, sowohl die materielle als auch die intellektuelle …‹ Die intellektuelle? Was will er denn damit sagen?«
»Seine hinterlassenen Papiere, seine Notizen, seine Tagebücher, seine alten Fotoalben aus der aktiven Zeit. Was weiß ich?« Waltin breitete die Hände aus. Nicht alle sind wie du, Erik, dachte er.
Berg schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. »Das klingt nicht gerade wahrscheinlich. Es gehört doch zum Standardvorgehen von Vorgesetzten, solche Dinge durchzugehen, wenn jemand stirbt. Das hätte doch gegen die Grundregeln der ganzen Branche verstoßen.«
Sicher, und der Storch ist der Papa aller Kinder, dachte Waltin und begnügte sich mit einem Nicken.
»Okay«, sagte Berg. »Wir müssen
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