Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
Gemeindehaus von Näsäker gesehen hatte. Bei denen man im Hintergrund Trommeln hörte und Indianer Feuer machten und sich mit Rauchsignalen verständigten und wenige Minuten vor Schluss die Kavallerie angaloppiert kam und die Trompeten schmetterten und er und alle anderen Kinder aus ganz Näsäker und Umgebung auf ihren Eintrittskarten pfiffen.
Indianer konnte er nicht entdecken, doch nach einer knappen Fahrstunde sah er auf einer Anhöhe auf dem anderen Ufer das Sternenbanner flattern. West Point, dachte Johansson und spürte, wie der rechte Flügel der Geschichte ihn streifte, und etwas über zwei Stunden später hatte er sein Ziel erreicht. In der Luft hing Schnee, es waren fast zwanzig Grad unter Null, und vor dem Bahnhof stand ein einziges Taxi.
»Twohundredandtwentytwo Aiken Avenue«, sagte Johansson und ließ sich auf den Rücksitz fallen, während er sich überlegte, was er sagen sollte. Falls sie überhaupt zu Hause ist, dachte er düster, und plötzlich bereute er die ganze Reise und sogar, dass er überhaupt in die USA gekommen war, was doch schon längst festgestanden hatte und was mit diesem rein privaten Abstecher wirklich in gar keinem Zusammenhang stand.
Besser, ich lasse das Taxi warten, bis ich weiß, ob sie zu Hause ist, dachte Johansson, als sie vor einem großen weißen Haus mit Veranda, geschwungenem Dach, mindestens zwei Erkern und einem Weihnachtsbaum in der Auffahrt hielten.
»Können Sie warten?«, fragte Johansson den Taxifahrer, der nickte, mit den Schultern zuckte und etwas Unverständliches murmelte.
Großes Haus, dachte Johansson. Eigentlich müsste sie eine Familie haben, aber im Telefonbuch hatte nur sie gestanden, und wenn es im Haus einen Mann gab, dann war Schneeschaufeln offenbar nicht seine große Leidenschaft. Johansson beglückwünschte sich ein weiteres Mal zur Anschaffung seiner Winterschuhe und stand jetzt auf ihrer Veranda, und im Haus brannte Licht, und er hörte sogar Musik, und eigentlich gab es jetzt kein Zurück mehr. Johansson seufzte, holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf.
Sie war klein und hatte eine üppige rote Mähne. Ziemlich niedlich, dachte Johansson, als sie höflich abwartend nickte und zugleich aus dem Augenwinkel das wartende Taxi registrierte.
»Ich suche Sarah Weissman«, sagte Johansson höflich.
»Ja«, sagte sie. »Das bin ich.«
»Ich heiße Lars M. Johansson«, sagte Johansson.
»Endlich«, sagte sie und zeigte ein strahlendes Lächeln. »Ein ehrlicher schwedischer Bulle. Was hab ich auf Sie gewartet!«
VIII
Frei fallen wie im Traum
Stockholm im November
Waltins gesamte Kindheit war mit Krankheit verbunden gewesen, mit Leiden und Tod, denn seine Mutter hatte ihn schon früh auf diese Bahnen gelenkt. So lange er sich erinnern konnte, und seine Erinnerungen reichten zurück bis in ein Alter von drei Jahren, war sie ununterbrochen an allem gestorben, was sich im Gesundheitslexikon zwischen A und Z finden ließ, während Heilung oder Linderung in ihrer zerfledderten Literatursammlung nur allzu selten eine Rolle spielten. Ihr gemeinsames Dasein lief dramatisch ab, denn sie wurden zwischen ihren akuten Gallensteinanfällen, Darmverschlingungen, Migräne- und Asthmaausbrüchen hin und her geschleudert. Es gab außerdem ein dauerhafteres Leiden in Gestalt einer Krebsform, die sie von innen her auszehrte, während Schuppenflechte, allerlei Allergien und ganz normale Ekzeme ihr Äußeres verheerten. Es gab ein Mutterherz, das wie eine keuchende Flamme ihre ausgemergelten Blutkörperchen durch hoffnungslos verworrene und verkalkte Gefäße presste, während ihre Lunge, ihre Leber und ihre Nieren sie immer wieder im Stich ließen. Ihre Zeit verbrachte sie zumeist in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arztpraxen, während der kleine Claes und seine Erziehung einer leicht zurückgebliebenen Haushälterin überlassen wurden, die die Mutter von ihrem Vater geerbt hatte, denn der war praktischerweise ein wohlhabender Mann gewesen und hatte den Takt besessen, rechtzeitig zu sterben.
An seinen eigenen Vater hatte Waltin nur wenige Erinnerungen, denn der war zuerst so gut wie nie anwesend und verschwand dann für immer, als der kleine Claes etwa fünf Jahre alt war und Papa nach Schonen übersiedelte, um seine Geliebte zu heiraten. Worauf seine Mutter ihr Krankheitsbild dann endlich auch durch eher psychiatrisch orientierte Bestandteile vervollständigte.
Waltin hatte seiner Mutter schon früh versprochen, Arzt zu werden, wenn
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