Zwischen dir und mir
der Küche war heruntergelassen. Er steckte den Schlüssel langsam ins Schloss, drehte ihn herum, bis es knackte.
Dunkelheit im Flur. Das Licht, das durch den offenen Spalt der Küchentür fiel, führte ihn. Nur flüchtig trat er die schmutzigen Schuhe auf der Matte ab und schlüpfte aus ihnen heraus, um sie in die dunkle Ecke der Garderobe zu werfen. Er wollte nicht wahrhaben, was er bereits ahnte. Zu vertraut war ihm das Bild. Alex hastete zur Tür, riss sie auf und sah seine Befürchtungen bestätigt.
»Scheiße, Mama!« Er packte sie beim Arm. Gerade hatte sie noch versucht, die Jägermeister-Flasche verschwinden zu lassen.
Sie war viel zu leicht, schon fast leer. Voller Enttäuschung knallte er sie auf den Tisch. Nur eine kleine Pfütze schwappte am Boden der Flasche hin und her. Alex hatte sich über den Tisch gebeugt und versuchte, sich zu beruhigen. Seine Mutter stank scheußlich aus dem Mund.
»Nein, Alex«, keuchte sie. Ihre Augen folgten ihm nur mühsam, als er sich, die Haare raufend, zum Kühlschrank schleppte und immer wieder gegen die Tür hämmerte.
»Ich … es war doch nicht viel«, versuchte sie sich zu rechtfertigen.
Alex hatte sich auf die Fensterbank gestützt und schaute mit aller Wut und Abscheu auf sie hinab.
»Ich dachte, du wärst davon weg, Mama.« Seine Lippen bebten, während das Blut in seinen Kopf schoss, als wollte er gleich platzen.
»Man trinkt eben mal einen Schluck … es beruhigt. Du weißt genau, dass ich mich unter Kontrolle habe.« Sie sprach schleppend, undeutlich. Sie konnte ihre blutunterlaufenen Augen kaum offen halten.
»Unter Kontrolle? Du warst deswegen in Therapie! Ich dachte … ich dachte, du hast das verstanden?« Seine Stimme voller Sarkasmus. Keuchendes Lachen. Kopfschütteln.
Alex ließ sich ihr gegenüber auf den Klappstuhl fallen. Das schwache Licht erhellte nur die Tischplatte, das Gesicht seiner Mutter blieb im Schatten.
»Warum, Mama?« Er musste schlucken. Seine Kehle schnürte sich langsam zu, während er sprach.
Eine Träne rann ihre Wange herab. Ihre Finger tasteten unsicher über die Kratzer im Holz.
»Scheiße, warum seid ihr alle so verdammt behindert?« Er schlug mit ganzer Wucht auf den Tisch. Sie zuckte zusammen. Auch er konnte eine Träne nicht mehr zurückhalten. »Scheiße, Mama. Warum tust du dir das an?«
»Du verstehst das nicht«, flüsterte sie. »Denk lieber an dich, Alex. Du solltest dich nicht um deine Mutter sorgen.«
Er schüttelte nur den Kopf und schaute sie mit all der Verachtung an, die er auf einmal für sie empfand.
»Du siehst scheiße aus. Guck dich doch im Spiegel an«, erwiderte er tonlos, während er sie und die Küche verließ.
Ohne das Licht anzumachen, lief er die Treppe hinauf und blieb im schmalen Flur stehen. Rechts die Tür zum Bad, links zu seinem Zimmer. Durch die Jalousie fiel nur ein Schimmer – von Sternen, Autoscheinwerfern und Laternen. Trotzdem sah er im Spiegel deutlich seine Augen leuchten. »Du hast die Augen deiner Mutter geerbt«, hatte Oma mal gesagt. Justus dagegen von ihrem Vater. Beide hatte Alex eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Seinen Vater schon etwas länger nicht. Es musste jetzt etwa sieben Jahre sein. Es war Sommer gewesen, als alles zusammengebrochen war. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Die Hölle war seitdem vorbei, aber Alex konnte nicht vergessen. Wieso verfolgte er diese verdammte Familie noch? Alex erinnerte sich noch genau – an das dumpfe Klatschen, wenn er sie geschlagen hatte. An das Geschrei. Irgendeinen Grund fand er immer. Manchmal war Justus zu spät nach Hause gekommen. Ein anderes Mal hatte Alex sich beim Spielen verletzt. Am nächsten Tag war seiner Mutter beim Kochen die Schüssel heruntergefallen. Ein Grund erbärmlicher als der andere. Mit jedem Streit war er lauter – sie leiser – geworden. Trotzdem war die Angst am größten gewesen, wenn es einfach nur still war.
Nachts hatte er gelauscht, ob sie wegen ihm oder wegen Justus stritten. Unter der Decke hatte er sich zusammengekauert und gewartet, bis wieder Schreie durch den Flur drangen. Alex schaute sich um, doch niemand außer ihm stand dort auf den alten Dielen. Still war es.
Er wollte die Erinnerungen abschütteln.
Er spürte noch immer ihre zarte Haut, das weiche Haar. Noch einmal wollte er sie berühren, sie küssen. Doch jetzt kam ihm das alles nicht mehr richtig vor. Er durfte nicht. Durfte nicht, solange er nicht wusste, ob er das überhaupt konnte – jemanden lieben. Sonst würde
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