Zwischen Ewig und Jetzt
lässt einen Blick durchs Zimmer schweifen.
Gut, zugegeben. Im Moment sieht es etwas unordentlich aus: Ich sitze mit meinen Engelbüchern mitten in Opas Sachen, die überall verstreut sind. Aber dieses Chaos hat durchaus System! »Ich mache das noch, keine Sorge. Die Papiere hier habe ich schon durchgesehen«, und ich zeige nach rechts. »Die da hinten auf dem Sessel und dem Fernseher sind alles offizieller Kram, da müsstest du noch mal einen Blick drauf werfen. Hier drüben sind Opas Noten und der Rest«, und ich mache eine umfassende Handbewegung, »fällt unter Diverses.«
Meine Mutter sieht nicht sonderlich überzeugt aus. »Nun gut«, sagt sie jedoch und hängt sich ihre Tasche um. »Ich muss jetzt los. Heute Abend bin ich noch zum Essen mit Klaus verabredet. Wir sehen uns dann.« Ein letzter, leicht verzweifelter Blick, dann ist sie weg.
Und ich allein mit den Hinterlassenschaften von meinem Opa. Ich schaue mich jetzt auch einigermaßen beunruhigt im Wohnzimmer um, das mehr einer Schneekugel gleicht, die jemand kräftig geschüttelt hat. Und hole mir erst einmal was zu essen. Ältlich schmeckende Kekse und ein Glas Apfelschorle. Ich platziere mein Picknick inmitten des Schneesturms und fange an aufzuräumen.
Wahrscheinlich wäre ich schon viel weiter, wenn ich nicht ständig an andere Dinge denken müsste. An Nikis Augen, den Schatten hinter seinem Rücken. An Erik, von dem ich nicht weiß, was er wirklich von mir will: Einmal ist er die Freundlichkeit in Person, dann wieder benimmt er sich wie ein Widerling. Und damit natürlich auch an Anni, und von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu Felix, den ich im Moment schmerzlicher vermisse als je zuvor. Er hätte mir geholfen. Er hätte mich nicht alleingelassen in diesem … ja, Chaos, ich gebe es zu. Sofort fühle ich mich schuldig. Ist es nicht Niki, der mich ständig irgendwo rauspaukt? Auf der Beerdigung, im Motel? Der es ständig gegen meinen Halbbruder aufnimmt, und apropos Halbbruder: Wo steckt der eigentlich? Oder wo steckt er eigentlich
nicht
, denn ich habe stets das Gefühl, dass er in der Nähe ist.
Paranoid. Ich werde langsam aber sicher paranoid. Tja, da hätte mich ja schon meine Engelforschung drauf bringen können. Also ehrlich, wer glaubt denn schon, dass es wirklich … Zack, da ist es passiert. Die Apfelschorle ergießt sich als blassgelblicher Strom über die Papiere, fließt zielstrebig in Richtung Partituren, die ich schnell zur Seite schubse. Ich renne in die Küche und hole ein Tuch.
Als ich das Schlimmste verhindert und gerade die letzte Spur beseitigt habe, fällt mein Blick auf den Stapel mit Notenbüchern. Eines ist durch den Stoß aufgeschlagen. Und was ich dort sehe, sind keineswegs Noten, sondern Buchstaben. Ein Brief. Zwischen den Seiten steckt ein Brief.
Ich krieche auf allen vieren darauf zu und erkenne, dass der Brief nicht einfach dort hineingeschoben, sondern auf der Seite festgeklebt wurde. Und er ist nicht der einzige. Ich knie mich vor das Buch, blättere um. Auf fast jeder Seite klebt etwas, eine Notiz, ein Zettel. Und eben Briefe.
Ich ziehe eine andere Partitur hervor.
Ariadne auf Naxos. Oper in einem Vorspiel und einem Aufzug von Richard Strauss
, steht auf dem Einband, doch drinnen befindet sich die gleiche Ansammlung an Briefen und Zetteln. Und sogar Fotos.
Chaos hin oder her: Ich glaube, ich habe Opas Schatz gefunden!
Es ist alles da, alles! Direkt unter unserer Nase. Unter Justins Nase. Diese Entdeckung will ich natürlich sofort mit Niki teilen, doch sein Handy ist abgeschaltet. Ans Haustelefon geht auch niemand, und die zickige Aushilfe vom Büro teilt mir nur mit, dass sie nicht wüsste, wo Niki steckt und sie ja auch schließlich nicht sein Kindermädchen sei.
Nun gut, dann versuche ich es eben auf gut Glück. Ich überlege erst, ob ich ein oder zwei der Notenbücher mitnehme, überlege es mir dann aber anders. Nein, zu gefährlich. Ich schleppe die Partituren unter mein Bett und schiebe schnell ein, zwei Papierstapel zusammen, damit meine Mutter keinen Herzschlag erleidet, sollte sie vor mir da sein. Bringt allerdings nicht viel. Dann schlüpfe ich in meine Jacke und bin schon zur Tür hinaus.
Herr Galanis öffnet mir. Und freut sich wie immer, mich zu sehen. »Ah Julia, Julia, schön wie eine Nachtigall. Komm herein, mein Kind.«
Ich wurme mich an Sherlock vorbei, der sich auch zu freuen scheint: Sein Schwanz wedelt leicht. Das ist doch ein gutes Zeichen bei Hunden, oder?
»Niki
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