Zwischen Ewig und Jetzt
Mal ist jemand gestorben. Alltag eben.
Jetzt beginne ich mich schon umzusehen, sobald ich nur auf die Straße trete. Denn die Justin-Sichtungen häufen sich. Und ich würde meinen Halbbruder zu gern zur Rede stellen, wenn er es denn ist. Wirklich ist.
Gestern hatte ich das Gefühl, sein Auto mindestens zweimal gesehen zu haben, als Niki und ich zum Kanal runtergegangen sind. Aber das kann nicht sein, oder? Ich meine, er kann unmöglich wissen, wo ich mich aufhalte, außer, er schafft so eine Art Rund-um-die-Uhr-Überwachung. Aber im Moment, und ich sehe mich wieder sorgfältig um, kann ich ihn nirgends entdecken.
Das macht einen ganz verrückt. Woher weiß er ständig, wo ich bin?
Und apropos Wissen: Von Niki wusste er ja auch.
Freunde, die Grenzen überschreiten
. Irgendetwas klingelt da bei mir, aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist. Freunde. Grenzen. Nein: Es ist hoffnungslos.
Nachdem die Luft Justin-rein ist, setze ich meinen Weg zur Bibliothek fort. Ich weiß ja, dass es albern ist, aber ich muss meinem Verdacht einfach nachgehen. Im Internet wimmelt es nur so von esoterischen Seiten über Engel, und Romane gibt es auch haufenweise, aber ich brauche etwas Fundiertes. Wissenschaftliches, soweit es möglich ist. Deshalb die Bibliothek.
Knapp zwei Stunden später habe ich diverse Zettelchen ausgefüllt und bei der Frau mit dem grell geschminkten Mund am Empfangsschalter abgegeben. Sie hat nur einen Blick drauf geworfen und »ungefähr dreißig Minuten« gesagt. Ich bin so rot geworden, als würde ich mir Pornos ausleihen. Gibt es überhaupt Pornos in einer Bibliothek? Auf jeden Fall gibt es eine Cafeteria, sagt ein Schild, doch dann entpuppt sich die verheißungsvolle Kaffeetasse mit dem Pfeil nur als Getränkeautomat mit ein paar Stühlen und Tischen davor. Und an einem dieser Tische sitzt …
»Julia. Hier!« Erik steht auf und winkt.
Schon wieder! Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu Annis Bruder rüberzugehen.
»Das ist ja eine Überraschung«, sagt er mit gedämpfter Stimme. Er beugt sich über den Tisch und küsst mich rechts und links auf die Wange. »Setz dich doch.«
Auch das muss ich wohl, um nicht völlig ungehobelt zu erscheinen.
»Was machst du denn hier?« Erik setzt sich wieder, schiebt einen Stapel Bücher beiseite. »Blöde Frage, Bücher leihen, natürlich. Kann ich dir was zu trinken holen? Obwohl: Ich muss dich warnen. Diese Brühe hier ist scheußlich.« Er zeigt auf den braunen Plastikbecher, der noch unberührt aussieht.
»Vielleicht einen Kaffee«, bestelle ich trotzdem, um Zeit zu gewinnen. Und mich von der Überraschung zu erholen. Erik scheint in gewisser Weise noch präsenter zu sein als Justin. Erik und Justin. Schon wieder habe ich das Gefühl, etwas zu übersehen. Etwas Wichtiges.
Der Kaffee schmeckt genauso, wie prophezeit, wenn nicht noch schlimmer. Ich rühre ihn überhaupt nur an, um nicht reden zu müssen. Vor allem nicht über Felix.
»Und? Werdet ihr damit fertig, du und Felix?«
Na also: Da ist er ja schon beim Thema. Ich nicke und nippe an dem scheußlichen Getränk.
»Das ist schön. Ehrlich, Julia: In eurem Alter sieht man das noch nicht so deutlich, aber Liebe kommt und geht.« Er lächelt väterlich, was mich nun wirklich in Rage bringt.
»Ach ja? Tut sie das? Wie alt bist du eigentlich, Erik?«
Annis Bruder lacht. »Alt genug, um dein Vater zu sein. Nein, aber mal im Ernst: Das sollte nicht so fürchterlich klingen. Ich dachte nur, weil Anni doch erzählt hat …«
»Was hat sie erzählt?«
»Dass du jetzt mit diesem Niki zusammen bist.«
Diesem
Niki.
»Das ist schön, wirklich, ich freue mich für dich.«
Ich stelle den Becher so heftig auf den Tisch, dass etwas von der grässlichen Brühe überschwappt.
Immer noch lächelnd schiebt Erik seine Bücher ein Stück zur Seite.
»Was machst du eigentlich hier, Erik?«, will ich wissen.
»Bücher ausleihen«, kommt es prompt. »Ich studiere schließlich.«
»Ja, Wirtschaftswissenschaften in London, soweit ich mich erinnern kann. Ich meine: hier. Was machst du
hier
?«
Erik beugt sich ein Stück vor. »Versprichst du, es niemandem weiterzusagen?«
Das verunsichert mich. Ich zucke also nur mit den Schultern.
»Ich habe eine Prüfung fürchterlich in den Sand gesetzt, brauche sie aber für meinen Master. Also habe ich mir ein Freisemester verordnet und pauke.« Er lehnt sich wieder zurück. »Wenn meine Eltern das erfahren, enterben sie mich todsicher.«
Ich verstecke mich
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