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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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die beiden noch mehr lachen lässt.
    Ich zucke nur mit den Schultern, als sie zu mir herüberblickt. Keine Ahnung was am Wetter so komisch ist, soll dieses Schulterzucken sagen, wobei ich mir auf die Lippen beißen muss.
    Und so wird das Essen trotz allem noch ein Erfolg, auf jeden Fall gibt es nicht mehr viele Fragen: Es wird viel zu viel gelacht.
     
    Ich kichere immer noch, als ich die Haustür aufschließe. Hänge meine Jacke auf, schreie »ich bin da«, doch es kommt keine Antwort.
    Unsere Winzwohnung ist ja schnell durchsucht, mir ist also nach zwanzig Sekunden klar, dass meine Mutter nicht da ist. Dafür finde ich einen hastig hingekritzelten Zettel auf dem Wohnzimmertisch:
Noch mal weg wg. Opa, Mama
. Ich nehme mal an, sie ist noch mal ins Heim gefahren und gucke auf die Uhr: gleich elf. Um elf sollte ich zu Hause sein.
    Im Fernsehen läuft noch ›Das Wort zum Sonntag‹, danach irgendein kanadischer Experimentalfilm. Ich nehme zumindest an, dass das ein Experimentalfilm ist, denn es gibt keine mir erkennbare Handlung und gesprochen wird auch nur wenig. Während des Films blättere ich alle Zeitschriften durch, die meine Mutter aus der Anwaltspraxis mitbringt und die vier Wochen alt sind. Als die Kanadier am Ende sind (sie hat sich, glaube ich, umgebracht, und er badet, keine Ahnung, warum), ist meine Mutter immer noch nicht zurück.
    Ich habe inzwischen sicher millionenfach das Display meines Handys kontrolliert, und da, endlich, blinkt es:
bin im krankenhaus mit opa, komme spät, kuss mama.
Oh je, Krankenhaus. Wenn sie noch dazu die Groß- und Kleinschreibung weglässt, muss wirklich etwas passiert sein. Und wenn sie mich telefonisch küsst, dann heißt das auch nichts Gutes. Ich versuche, meine Mutter anzurufen, aber sie hat das Handy anscheinend gleich wieder ausgeschaltet. Bleibt mir nichts anderes übrig als abzuwarten.
    Irgendwann versuche ich zu schlafen. An etwas Schönes zu denken, an Felix, an den Nachmittag bei ihm, seine Haut, seine Hände, aber immer wieder schiebt sich das Auto dazwischen, das zerstörte Auto mit der zerborstenen Windschutzscheibe.
    Dieses Auto habe ich nie gesehen, niemals. Wahrscheinlich ist es ein Auto aus irgendeinem
Tatort
oder meine Phantasie weiß von ganz allein, wie so ein Unfall aussieht. Hat es damals überhaupt geregnet? Ich denke, ja. Was sonst sollte so tropfen? Das ist das einzige Geräusch, das ich mit dem Unfall verbinde.
    Dann muss ich doch eingeschlafen sein, und trotzdem bin ich sofort hellwach, als sich meine Mutter auf die Bettkante setzt.
    Mein Herz galoppiert los, ich spüre die Regentropfen auf meinem Gesicht.
    »Opa ist tot«, sagt meine Mutter leise und streicht mir übers Haar. »Er hatte einen schweren Schlaganfall gestern Nachmittag, und sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Dort ist er dann gestorben.«
    Ich nicke. Mein Herz rast immer noch. »Regnet es?«, will ich wissen.
    Meine Mutter dreht den Kopf zum Fenster, und ich kann sehen, dass sie geweint hat. »Nein. Es wird ein schöner Tag«, sagt sie.
    Morgen, nein, heute ist Sonntag. Es wird ein schöner Tag. Mein Opa ist gestorben. Ich muss erstmal klar werden, und je ruhiger ich werde, desto leiser werden die Regentropfen, bis sie schließlich aufhören.
    Meine Mutter sitzt immer noch auf meiner Bettkante, die Hände im Schoß. Sie sieht so müde aus und so allein. Ich sollte sie nicht so alleinlassen in ihrer Trauer.
    »Hat er noch was gesagt?«, frage ich. Ich tue es ihr zuliebe. Eigentlich will ich es nicht wissen. Es interessiert mich nicht.
    »Nein.« Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Am Anfang hat er noch gemurmelt, etwas, was man nicht mehr verstehen konnte. Dann hat er nur noch geatmet. Sein Atem klang schrecklich, wie … wie unter Wasser.«
    Das
will ich definitiv nicht wissen.
    »Ich habe ihn gestreichelt, und dann hat er irgendwann aufgehört, Luft zu holen. Es wurde einfach zu schwer.« Sie weint wieder.
    Ich nicht. Kann nicht weinen. Ich fühle mich so müde, als hätte ich Wochen nicht geschlafen. »Können wir uns noch mal hinlegen?«
    »Natürlich«, sagt meine Mutter und zieht die Nase hoch. »Natürlich.« Aber sie geht nicht weg, und mir fallen irgendwann die Augen zu. Letztendlich muss sie dann doch gegangen sein.
     
    Sonntag ruhen selbst die Toten: Um all die Formalitäten zu erledigen, die das Ableben so mit sich bringt, muss man sich bis Montag gedulden. Meine Mutter hat sich den Tag freigeschaufelt, um das zu erledigen: Beerdigung absprechen, Pfarrer anrufen,

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