Zwischen Ewig und Jetzt
Kapelle bestellen, das volle Programm. All die anderen, deren Leben weitergeht, haben wieder Schule. So als wäre nichts passiert, als würde niemand fehlen. Es macht einen manchmal ganz sprachlos.
»Are you going to speak?« Ein perfekter Satz im
going-to-future
, dem Zwillingsbruder von
will
. Und ich kann Niki dabei sogar in die Augen sehen. Ich bin über ihn weg, kuriert: So viel ist klar. Jemand, der vorgibt, mit Toten zu reden, ist in der Tat verrückt.
»Richtig«, sagt Niki. »Nächster Satz.«
Das reizt mich, dieses Drüber-hinweg-gehen, als sei nichts passiert. Immerhin weiß ich jetzt soviel mehr über ihn. Immerhin ist gerade jemand gestorben. »Are you going to speak?«, wiederhole ich also. Es ist unfair: Er kann es nicht wissen. Niemand weiß es, nicht einmal Felix. Aber ich bin so wütend. Wütend auf … keine Ahnung worauf. Auf den Tod, wahrscheinlich. Auf meinen Opa. Auf beide.
Niki sieht mich an. »Speak about what?«
»About … tote Leute, die du reden hörst.« Mein englischer Sprachschatz reicht nicht annähernd an das heran, was ich sagen will. Wie er es wagen kann, will ich eigentlich fragen. Wie er behaupten kann, etwas über diesen Tod zu wissen, der so mächtig ist? Der immer wieder alles, alles zerstört?
»Ah.« Er lächelt. Lächelt! »Dein Freund hat dir also von unserem kleinen Geheimnis erzählt. Nun ja, so geheim ist es auch nicht. Schon lange nicht mehr.«
»Du spinnst doch!« Meine Wut steigert sich mit jedem Wort.
Er lehnt sich leicht zurück. »Nun, wenn das alles ist, was dir dazu einfällt: Da bin ich schon übler beschimpft worden.«
»Der Tod ist nichts, worüber man Witze macht.«
»Siehst du mich etwa lachen?«
»Zu behaupten, Tote reden hören zu können, ist lachhaft.«
Er zuckt mit den Schultern.
Ich könnte ihn schlagen, so wütend bin ich. Auf ihn eintrommeln, ihn treten, dies Lächeln zerreißen, irgendwie. Aber ich schweige nur, während mein Herz pocht. Und wehtut. »Wie kann man nur so …, so …«
»Was?«, fragt er und sieht mich direkt an.
»Du solltest dich mal auf deinen Geisteszustand untersuchen lassen.«
»Ah. Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Du arbeitest dich in der Beschimpfungsskala nach oben.« Er sieht immer noch gleichmütig aus, aber seine Seeaugen toben. »Und jetzt? Was kommt jetzt? Are you going to kill me?« Er beugt sich so weit vor, dass ich hörbar nach Luft schnappe. »Du kennst mich doch gar nicht, Julia. Du hast bislang, … wie viel? Vielleicht drei Sätze mit mir geredet.«
»Das ist schon mehr als die meisten hier tun.«
»Bei den anderen ist es mir völlig egal.«
Ich erstarre. »Bei mir nicht? Warum nicht? Du kennst mich doch auch nicht.«
Nikis Augen blitzen. »Weil … weil …« Er atmet schwer. »Weil ich dich einfach …«
»Das hört sich für mich nicht sonderlich nach Englisch an«, unterbricht uns eine Stimme und lässt uns vor Schreck zusammenfahren. Wir haben beide Mrs Henschel nicht kommen hören. »Wird hier noch gearbeitet? Are you still working on this subject? Or do I interrupt some private conversation?«
»We have nothing private together«, sage ich, was sich falsch anhört. Alles, was ich sage, hört sich falsch an.
»Dann bitte weiter im Text.« Sie zeigt auf das aufgeschlagene Buch auf meinen Knien.
Ich warte, bis sie sich entfernt hat. »Niki«, beginne ich mit Nachdruck und nicht viel weniger aufgebracht als noch kurz zuvor.
»My nyas«, antwortet er mit ironischem Tonfall.
Das bringt mich durcheinander. »Was? Was heißt das?«
»Are we going to learn, now?«
Ich starre ihn wütend an. »Maybe I am
doch
going to kill you«, sage ich, was sich nicht nur falsch, sondern regelrecht lächerlich anhört, weil mir wie immer eine Vokabel fehlt. Aber den
future-irgendwas
beherrsche ich mittlerweile fast perfekt. Wie auch nicht, wenn einem schon die Vergangenheit immer mehr wegstirbt.
Mein Opa ist … mein Opa war, sollte ich besser sagen, der Vater meines Vaters. Er war, als ich klein war, ein toller Opa, der mich genauso interessant fand wie ich ihn. Wir waren ein super Team. Dann kam diese Alzheimergeschichte. Und als ich rausfand, dass er mich all die Jahre über belogen hatte, da wusste er das schon nicht mehr. Wie bequem für ihn.
Felix erzähle ich nichts von seinem Tod, der Clique auch nicht. Wir unterhalten uns über den letzten Skiurlaub (Felix und Maximilian), irgendein neues Auto von VW (Konrad und Maximilian), ob der Schuhversand den direkten Einkauf
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