Zwischen Ewig und Jetzt
darüber hinaus einfiel.
Alles vergeben und vergessen? All die Jahre der Lüge?
Wie betäubt gehe ich hinter Niki die Treppe hoch und in den Innenhof, aus dem einer der zwei Leichenwagen inzwischen verschwunden ist. Die Luft ist lau, sie riecht nach Blättern und Abgasen. Die Welt steht noch, was ich in gewisser Hinsicht erstaunlich finde. Und ich habe eine neue Aufgabe: Ich muss etwas über ein Testament herausfinden. Und die Wahrheit über den Tod meines Vaters.
»Tja«, sagt Niki und hat seine Hände wieder in den Taschen vergraben. »Das war’s dann wohl.«
Ich blinzele. Was war was? Mit meinem Opa? »Aber ich könnte ihn noch mal sprechen oder? Zumindest solange, bis er begraben ist?«
Niki nickt. »Bis Freitag also.«
Freitag ist übermorgen. »Ich kann doch das Testament unmöglich bis übermorgen finden.« Panik steigt in mir auf. Denn wenn ich es bis dahin nicht habe, dann bin ich ganz allein. Und werde nie erfahren, ob mein Vater vielleicht …, vielleicht was? Etwa ermordet wurde?
»Wessen Testament musst du finden? Das von deinem Opa?«, fragt Niki.
»Nein, von meinem Vater.« Die Antwort kommt ganz automatisch, ohne darüber nachzudenken. Erst als ich seinen Blick sehe, wird mir klar, was ich gesagt habe. Meine Wangen werden heiß. »Er ist tot, ja. Ich hab es keinem erzählt, weil … weil … Ich wollte es eben nicht. Und will es jetzt auch nicht«, füge ich als Warnung hinzu.
Niki zuckt mit den Schultern, sagt aber nichts mehr.
»Und ich fände es schön, wenn du das hier, das alles hier, für dich behalten könntest.«
»Schon klar.«
»Das heißt nicht, dass ich …«
»Nein? Tut es nicht?« Niki lächelt sarkastisch. »Du wirst mir morgen in der Schule also ein fröhliches ›Guten Morgen‹ zurufen? Sicher? Dann warten wir doch erst einmal ab, was dein Freund dazu sagt. Oder wirst du es ihm nicht erzählen? Aber dann kannst du erst recht nicht mehr mit mir umgehen, nicht wahr? Egal wie man es dreht und wendet: Ich bin am Ende immer der Arsch.« Er kickt ein Steinchen weg.
Ich kann so schnell nichts erwidern. Mein Kopf ist voller Gedanken, und davon sind die, wie viel und was ich Felix erzähle oder wer hier am Ende was ist, noch die unwichtigsten. Mein Vater wurde vielleicht ermordet! Zumindest, wenn man meinem toten Opa Glauben schenken darf. »Ich muss nachdenken«, sage ich nur. »Ziemlich viel nachdenken. Und Niki?«
Er sieht mich an.
»Danke.«
Er zuckt mit den Achseln. Für ihn könnte ich inzwischen der Mann im Mond sein: gerade noch vorstellbar, schon nicht mehr erreichbar.
Und das tue ich tatsächlich den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend, wahrscheinlich noch die ganze Nacht über: nachdenken.
Zunächst einmal fühle ich mich seltsam aufgeregt, ängstlich, auf eine merkwürdige Art und Weise aber auch getröstet. Dann wird das Gefühl schwächer. Stattdessen bin ich wütend auf mich, dass ich nicht
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gefragt habe. Nicht so allgemeinen Krams wie ›Gibt es einen Gott‹ oder ›kannst du fremden Menschen beim Sex zusehen‹, sondern Fragen über meinen Vater. Wer er wirklich war. Und wie er gestorben ist. In der dritten Phase schwächelt dann meine Überzeugung. Das tritt so gegen acht Uhr ein. Als ich mit meiner Mutter die Tagesschau zu Ende gesehen habe, kommen die Zweifel. Konnte das wirklich alles passiert sein? Hat mich Niki reingelegt, aber wenn ja, warum? Und wie kann er so viel wissen?
»Du bist so schweigsam heute«, sagt meine Mutter, die sich nicht entscheiden kann und zwischen einer amerikanischen Arztserie und einer amerikanischen Serie ohne Ärzte hin und her zappt.
»Ich lese«, entgegne ich und starre angestrengt auf das Alibibuch, das ich mir auf die Knie gelegt habe.
»Du hast schon seit einer guten halben Stunde nicht umgeblättert«, erwidert meine Mutter.
»Ist eben ein anstrengendes Buch.«
Ich hab ihr natürlich nichts von Opa erzählt. Wie auch. Die Geheimnisse werden immer mehr. Jetzt erstrecken sie sich schon auf die Toten. »Meinst du«, frage ich versuchsweise und blicke hoch von dem Buch, das ich vorgebe zu lesen, »es gibt ein Leben nach dem Tod?«
»Was?« Meine Mutter ist reichlich abgelenkt durch das Gemetzel auf dem Bildschirm. Ein Mensch mit offenem Brustkorb stirbt stilecht in rotem Ketchup, während ein überaus gutaussehender Arzt nach einem Defibrillator ruft.
»Ein Leben nach dem Tod.«
Der Bildschirm-Patient wird geschockt. Alle Schwestern und Ärzte, die samt und sonders auch eine Modelkarriere hätten
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