Zwischen Ewig und Jetzt
zu sagen oder zu denken. Wir beten ein
Vater Unser
. Der Pfarrer und Menschen, die ich nicht kenne, drücken mir die Hand und ihr Beileid aus.
»Siehst du noch dein Zimmer?«, fragt Niki leise, während wir den langen Weg vom Grab zum Eingang zurückgehen. Er hält meine Hand.
»Ständig«, behaupte ich, aber eigentlich denke ich nur an seinen Kuss. Der wirkt wie ein Schutzschild und ich bin fast erstaunt, dass niemand mich auf dieses blaue Leuchten um mich herum anspricht.
Der anschließende
Trauerschmau
s (was für ein Wort!) findet in einem winzigen Café neben dem Friedhof statt. Als wir es betreten und unsere Jacken aufgehängt haben, steigt Panik in mir hoch. Hier werde ich Justin nicht mehr aus dem Weg gehen können.
Und richtig: Kaum entscheide ich mich für einen Platz, sitzt mein Halbbruder auch schon neben mir. Niki bleibt nichts anderes übrig, als sich uns gegenüber, neben meine Mutter, zu setzen. Auf ihrer anderen Seite sitzt Klaus.
Meine Mutter ist nervös. Und wie immer, wenn sie nervös ist, redet sie ohne Unterlass. Niki muss ihr also einerseits höflich antworten, andererseits auf mich und meinen Nachbarn aufpassen.
Noch hält das blaue Leuchten.
»Und haben Sie sich erholt von Ihrer Überraschung?«, fragt meine Mutter, die ihm einschenken will.
»Du«, sagt Niki. Er hält die Tasse hoch. »Überraschung?«
»Na, Sie kamen mir …,
du
kamst mir reichlich überrascht vor gestern am Telefon, als ich dir sagte, dass Julia nicht da ist. Dass sie mit Niki lernt. Huch, Entschuldigung, das war ungeschickt von mir.«
Die Tasse in seiner Hand hat so sehr gewackelt, dass der Kaffee übergeschwappt ist. »So? Wirklich?« Niki wirft mir einen undefinierbaren Blick zu. »Naja, ich war tatsächlich ein wenig … erstaunt, als ich davon erfahren habe.«
»Ich hab vergessen, es ihm zu erzählen, das ist alles«, sage ich.
»Vergessen. Tja, jetzt ist es raus.« Niki lacht gezwungen. »Und ist ja auch wirklich nichts dabei, sich mit diesem Niki zu treffen.«
Nun ist die Überraschung auf Seiten meiner Mutter. »Diesem? Ich dachte, Niki sei ein Mädchen.«
Niki verzieht schmerzhaft das Gesicht. »Niki, klar. Nettes Mädchen. Und besonders gut in …« Er zögert. »Englisch«, sagt er dann.
Gott sei Dank. Ich schließe für einen winzigen Moment die Augen.
»Brauchst du Nachhilfe?«, schaltet sich jetzt Justin in das Gespräch ein.
»Englisch ist nicht gerade eins meiner Lieblingsfächer«, murmele ich.
»Stimmt«, sagt Justin betont heiter. »Soweit ich mich erinnere, warst du immer gut in Mathe. Dein Französisch kann ich ja leider nicht beurteilen, aber in Biologie warst du schon in jungen Jahren begabt.«
Ich erfriere innerlich. Nehme mir ein Stück Streuselkuchen und beginne, es auf meinem Teller zu zerlegen.
»Woher weiß Justin, dass du gut in Mathe bist?«, fragt meine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Oh, ich weiß so vieles«, grinst Justin, der die Situation wie erwartet zu genießen scheint.
Ich war vierzehn, Justin fünf Jahre älter und damit volljährig. Natürlich habe ich meiner Mutter damals nichts von meiner neuen Bekanntschaft erzählt, wie er sehr wohl weiß. Wir haben sogar darüber gelacht, wenn wir uns heimlich im Kino oder der Eisdiele trafen. Das rächt sich jetzt. Alles rächt sich. Mein ganzes Leben ist eine einzige, verworrene Rache.
»Du weißt überhaupt nichts über Julia, du gelackter Idiot«, rettet Niki die Situation auf seine Weise.
Meine Mutter erstarrt, und auch meine Kuchengabel bleibt in der Luft vor meinem Mund schweben.
Justins Grinsen gefriert. »Oh, verlieren wir jetzt die Contenance?«
»Falls Contenance gute Erziehung heißt, hast du davon ziemlich wenig abbekommen in deinem Leben.«
»Contenance heißt Selbstbeherrschung, lieber Felix«, zischt Justin.
»Weißt du was?«, sagt Niki, steht auf und legt die Serviette auf den Teller, »von dir lass ich mich nicht Felix nennen.« Er holt aus, lässt sich blitzschnell nach vorne fallen – und schlägt über den Tisch hinweg zu.
Justin fällt mitsamt seinem Stuhl hintenüber, ist aber relativ schnell wieder auf den Beinen. »Bist du verrückt geworden?«, schreit er und hält sich die Nase. »Ist er verrückt geworden? Haltet mir diesen Irren vom Leib.«
Niki schüttelt seine Hand.
»Felix!« Meine Mutter blickt zu ihm hoch.
»Niki!«, rufe ich zeitgleich.
Meine Mutter starrt mich an, die Trauergäste sowieso, Klaus sieht fassungslos aus und Justin angelt nach einer Serviette, um
Weitere Kostenlose Bücher