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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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er. Nur soviel: Dein Vater hat ein Schriftstück aufgesetzt, in dem er dich als seine Tochter anerkennt und dich als Erbin einsetzt. Und einen Test. Welchen Test?« Niki starrt ins Leere. »Ach so, eine Art Vaterschaftstest oder so. Das alles hat er einem ›wahren Anwalt‹ gegeben, was immer das auch sein soll. Und angeblich hat er deiner Mutter davon geschrieben, aber dann hätte sie das doch angeben können vor Gericht, oder?« Niki wendet sich kurz mir zu, schüttelt dann aber den Kopf. »Ja, ja, Entschuldigung. Ich bin ja schon ruhig.« Er zwinkert mir zu. »Du sollst diese Schriftstücke finden, sagt er, sie seien die
Partitur seines Lebens
. Das klingt jetzt etwas geschwollen, aber so … ja, schon gut. Ich übersetze. Du sollst deinen Vater nicht allein Justin überlassen. Dein Vater gehört zu euch, weil es das ist, was er ständig wollte: bei euch sein.«
    Jetzt laufen mir doch Tränen über die Wangen, aber es ist egal, schließlich sind wir auf einem Friedhof. Wenn man hier nicht weinen darf, wo dann? »Wie ist Papa denn gestorben? Was stimmt denn nicht mit seinem Tod?«
    Niki streicht sich über die Stirn, dann antwortet er. »Nein, er weiß es nicht. Aber es sei etwas in der Nähe. Etwas Ungutes. Und ich zitiere wörtlich.«
    »Ungut? Was soll denn das heißen?«
    »Julia, er muss jetzt gehen. Er sagt, ich soll dir einen Kuss geben von ihm.« Niki lächelt mit abwesendem Blick und schüttelt den Kopf.
    »Jetzt? Nein, das geht nicht. Er kann nicht einfach gehen und mich allein lassen mit all den Fragen. Bitte, bitte nicht.«
    Niki schüttelt den Kopf, sein Blick wird klarer, und ich weiß, was das bedeutet.
    »Mach’s gut, Opa«, flüstere ich.
    »Mach’s gut, mein Kind«, sagt Niki. Er lauscht, räuspert sich. »Jetzt ist er wohl weg. Ich kann nichts mehr hören.«
    Wir beide bleiben eine Weile lang stumm, dann sehe ich tränenüberströmt zu ihm hoch. »Und? Wirst du es jetzt tun?«
    »Was denn?«
    »Mich küssen?«
    Niki sieht mich ernst an, dann beugt er sich zu mir herunter und küsst mich. Dieses Mal spüre ich seinen Ring lang und deutlich und noch ganz andere Sachen. Und nehme doch stark an, dass Opa so einen Kuss nicht gemeint hat.
     
    Die eigentliche Beerdigung unterscheidet sich nicht viel von der meines Vaters, soweit ich mich erinnern kann: Es war damals alles wie im Nebel, alles weit weg. Bei Opa sind nicht so viele Leute da, aber genug, dass die kleine Kapelle nicht so leer wirkt.
    Es ist kalt. Auf dem Sarg ruht ein Blumengebinde aus weißen Calla und roten Rosen von Mama und mir.
In Liebe, Ruth & Julia.
Daneben steht ein bombastischer Kranz, der mit gelben Rosen und irgendwelchen blauen Blumen geschmückt ist. Auf der Schleife prangt in goldenen Buchstaben:
Auf ewig, dein Enkel Justin.
Nichts von Justins Mutter, sie hatte sich nie verstanden mit Opa.
    Wenigstens das. Ich atme hörbar aus, Niki drückt meine Hand. Ich denke daran, wie wir uns geküsst haben. Sperre alle anderen Gedanken aus und fühle mich stark.  
    Mein Opa war katholisch, also wird nicht viel über sein Leben erzählt: Das war schon bei meinem Vater so. Das meiste sind Formeln. Sie sind austauschbar, dieser Tod und der andere, den ich wie in Trance erlebt habe. Dieses Mal passe ich auf, sehe alles klar und überdeutlich. Ein Schmetterling hat sich in die Kapelle hineinverirrt und umkreist hoffnungsvoll die Blumen. Eine Pflegerin aus dem Altenheim schluchzt. Der Mann an der kitschig tönenden Orgel verspielt sich dreimal. Meine Fingerspitzen werden kalt. Einer von Opas Mitbewohnern fragt während der Predigt laut und deutlich, warum mein Opa da drüben an der Decke schwebt.
    Ich sehe erwartungsvoll zu Niki, doch der zuckt mit den Schultern. »Sehen kann ich sie nicht«, flüstert er mir zu und lächelt schwach.
    Wir singen zwei Lieder, auch hier verspielt sich der Mann an der Orgel. Der Schmetterling ist verschwunden. Als wir dem offenen Auto mit dem Sarg folgen, kann ich Weihrauch riechen. Mama und ich sind die Ersten, Justin folgt uns. Ich kann ihn nicht hören, aber ich kann ihn regelrecht spüren, und eine Gänsehaut läuft mir über die Arme. Es ist ganz ruhig, nur der Kies knirscht unter unseren Schritten. An der Decke des Autos sind kleine blaue Lampen befestigt, und ich frage mich, was die darstellen sollen: Sind das Sterne? Aber warum sind sie dann blau?
    Hatte Papa auch Sterne im Auto? War ein Schmetterling auf seiner Beerdigung gewesen?
    Ins Grab lasse ich ein paar Blütenblätter rieseln, ohne etwas

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