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Zwischen Ewig und Jetzt

Zwischen Ewig und Jetzt

Titel: Zwischen Ewig und Jetzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Lucas
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niemand hören kann, doch die anderen Tische um uns herum sind nicht besetzt. Nur vorne sitzen noch Kaffeegäste am Fenster.
    »Natürlich kannst du. Sie wird schon unruhig, wenn du den Namen deines Bruders nur erwähnst.« Niki spricht ebenso leise.
    »Justin, Justin«, murmele ich wie ein Mantra.
    Niki schnalzt mit der Zunge. »Eben.«
    Wir haben uns ins erstbeste schummerige Café zurückgezogen, um zu beratschlagen, was wir jetzt tun sollen. Es ist eines dieser kleinen Lokale, in denen uralte Damen sich den Nachmittag über an einem Kaffee festhalten. Und eins, in dem die Bedienung noch eine weiße Schürze und ein weißes Häubchen trägt, ob man’s glaubt oder nicht. Bei uns in der Ecke riecht es nach Toilette, daran kann auch der Kaffee nichts ändern, der vor uns erkaltet.
    Ich hole mein Handy aus der Tasche, schalte es ein. Es sind zwei Nachrichten von Felix drauf, aber das muss warten: Wahrscheinlich will er nur sagen, dass er gut in Berlin angekommen ist. »Also, einfach anrufen, meinst du?«
    »Sicher. Das Überraschungsmoment hast du damit auf deiner Seite.« Niki winkt und nickt der Bedienung freundlich zu, die uns die ganze Zeit vom Tresen aus beobachtet. Entweder sie steht auf ihn, oder sie glaubt, dass wir sie gleich überfallen. »Mann, diese Häubchen sind der Hit«, raunt Niki mir zu und lächelt. Galgenhumor. Er sieht immer noch angespannt aus, sein Mundwinkel zuckt.
    Als die Bedienung sich endlich abwendet, sind wir so ungestört, wie wir es in der Öffentlichkeit nur sein können. 
    »Trotzdem.« Ich blicke ihn zweifelnd an. »Sollen wir nicht erst irgendwo anders hingehen? Zu dir?«
    Niki schüttelt seinen Kopf. »Je eher diese Stimme raus ist aus meinem Kopf, desto besser.« Er sagt es sehr eindringlich, und ich glaube ihm aufs Wort. Ihm macht dieser »Blackout«, wie er das Geschehen von eben nennt, noch zu schaffen. Ich würde es eher Besessenheit nennen. Irgendwann in nächster Zeit werde ich mit ihm darüber reden müssen, dass die Toten eine Menge mehr tun, als nur mit ihm zu reden, aber jetzt … Ich seufze. »Also gut, ich tue es.« Dann sehe ich wieder hoch. »Lass uns noch mal durchgehen, was wir haben. Also, wir wissen, was die Stimme sagt.«
    »Schlampe, Betrügerin, Flittchen …«
    »Ja, danke, schon gut. Und wir wissen, was Justin gesagt hat …«
    »Da. Schon wieder.«
    »Was denn?«
    »Die Stimme schweigt. Nur kurz, aber das tut sie immer, wenn du den Namen deines Bruders sagst.«
    »Und könntest du aufhören, ihn meinen Bruder zu nennen?«
    »Klar.«
    Wir warten kurz, bis ein Mann mit einem Stock an uns vorbei und in die Toilette gewankt ist. Ein frischer Schwall Urinsteingeruch umweht uns.
    »Und wir wissen«, sage ich noch leiser, so dass Niki sich vorbeugen muss, um mich zu verstehen, »dass Justins Mutter krank war. Das habe ich zwar immer für eine Ausrede gehalten, damit sie nicht vor Gericht erscheinen muss, aber wer weiß.«
    »Und dein … Justin trug einen schwarzen Anzug.«
    Ich habe Niki kurz beschrieben, was sich während der »Entführung« abgespielt hat. Was passiert ist, bevor er mich befreit hat. Etwas habe ich ausgelassen. Von Justins Warnung vor ihm habe ich ihm nichts gesagt. Noch ein Punkt auf meiner Was-ich-Niki-bei-Gelegenheit-noch-beibringen-muss-Liste.
    Ich versuche, mich wieder auf das Naheliegende zu konzentrieren. »Der schwarze Anzug, sicher. Doch das könnte auch aus modischen Gründen sein. Dass er ihn wegen Opa trägt, scheidet wohl eher aus. Aber«, und ich muss wieder an diese Gesten denken, dieses fahrige über-die-Stirn-Streichen, den abwesenden Blick, das halbe Lächeln, »man könnte meinen, er trauere wirklich. Zumindest könnte man das hineininterpretieren.«
    »Und im Altenheim hat er gesagt … Was war das noch mal?«
    »Dass ich der einzige Mensch bin, der noch zu ihm gehört.« Ich starre auf meine Tasse, von der ich noch nicht einen Schluck getrunken habe. »Trotzdem.«
    »Julia!«
    »Schon gut, schon gut. Ich tu’s ja.«
    Die Toilettentür geht auf und wir müssen wieder warten, bis der Stockmann an uns vorbeigehumpelt ist. Dieser Urinsteinduft nimmt einem fast den Atem.
    »Ist gut. Ich wähle.« O Gott. Mir ist kotzübel. Nicht nur vom Geruch, sondern auch deswegen, weil ich immer noch seine Handynummer auswendig kenne. Was muss eigentlich noch alles passieren, bis auch die kleinste Zelle in meinem Kopf vergisst, was gewesen ist?
    Es klingelt nur zweimal. »Hallo?«
    »Justin? Hier ist Julia.«
    Es wird kurz still.

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