Zwischen Ewig und Jetzt
beneide dich! Diese Stadt war schon immer meine Lieblingsstadt. Warst du schon in der Tate? Sicher warst du das. Die haben da dieses Wahnsinnsrestaurant …«
Und so geht es weiter, bis endlich die anderen kommen. Allen voran Felix, der sich neben meinen Sessel hockt und mich lange und innig küsst.
»Und?«, fragt er, »schon gelangweilt?« Er zieht einen Hocker vom Nebentisch heran, setzt sich und stützt sich auf meine Lehne auf.
»Wohl kaum«, antwortet Anni an meiner Stelle.
Felix spielt mit meinen Haaren.
»Schöne Frauen sollte man nie warten lassen«, sagt Erik.
»Nicht aus den Augen lassen, wäre wohl besser«, murmelt Anni, während sie auf ihrem Handy herumtippt.
Felix sieht zu mir und zieht fragend die Stirn hoch. Ich nehme mal an, Anni spielt auf Niki an, zucke jedoch nur mit den Achseln. Bin damit beschäftigt, Konrad zu beobachten, an dessen dunklen, unergründlichen Augen sich jedoch nichts ablesen lässt. Na ja, was denn auch:
Ich bin schwul und stehe auf deinen Freund
wird wohl kaum in ein Auge passen.
Über Cappuccino und Latte vergesse ich die Angelegenheit. Und ich denke nicht mehr an Annis Bemerkung. Bis ich zu Hause bin. Und sie mir schriftlich aus meinem Biologiebuch entgegenflattert.
Es ist ein Brief, sorgfältig in einem Kuvert verpackt, ohne Anrede und Absender. Zugeklebt ist er auch noch. Ich klappe verdutzt das Biobuch zu, öffne den Umschlag und ziehe mit leicht zitternden Händen ein einfaches Papier heraus, auf das jemand in Großdruckbuchstaben
Jetzt erst recht. Ich weiß, wo du wohnst. Ich lasse dich nicht aus den Augen
geschrieben hat.
Das Papier zittert stärker. Ich lege es rasch unter das Buch, damit meine Mutter nichts merkt. Solange bis mir nicht mehr übel ist.
Nach einer kleinen Weile, die ich mein Biobuch angestarrt habe, hole ich den Zettel wieder hervor.
Irgendwie habe ich das nicht erwartet. Irgendwie wohl doch daran geglaubt, dass die erste Botschaft etwas mit Justins Mutter zu tun hatte. Und die Angelegenheit mit ihrem Verschwinden erledigt ist.
Zur Tarnung schlage ich das Buch auf, verstecke die Nachricht auf den hinteren Seiten. Und starre auf die verschiedenen Formen von Finkenschnäbeln, ohne sie zu sehen.
Nehmen wir einmal an, es ist Justins Mutter, die diese Briefe schreibt. Ja, ich weiß selbst, wie das klingt. Nur mal angenommen. Ich habe ja gesehen, was Geister anrichten können, was sie Niki antun können. Sie können
vielleicht
ein Buch umschubsen,
vielleicht
ein Flurlicht flackern lassen, und das Wattegefühl ist auch nicht von schlechten Eltern. Am schlimmsten sind zweifellos die Visionen, die sie heraufbeschwören können, sobald man ihnen zu nahe kommt, aber wer weiß, ob sie das auch wirklich sind:
Vielleicht
ist auch nur die Phantasie mit mir durchgegangen. Und
vielleicht
, ganz vielleicht schaffen sie es auch, eine Computertastatur zu bedienen. Eine Menge Vielleichts. Und irgendwie kommen mir die Ereignisse so aus der Distanz immer unwahrscheinlicher vor, je länger sie zurückliegen: Felix würde das zweifellos als die restlichen Prozente gesunden Menschenverstands bezeichnen, die wieder die Überhand gewinnen. Selbst wenn ich also glauben würde, dass Geister all das Bücher-Visionen-Zeugs hinkriegen, dann ist das hier doch ein anderes Kaliber. Ich glaube wirklich nicht, dass sie einen Drohbrief schreiben, in ein Kuvert stecken und das auch noch zukleben können.
Nein. Mein anonymer Briefeschreiber ist eine reale Person.
Gut. Damit kann ich umgehen.
Es fühlt sich schlimm an, das schon. Aber längst nicht so schlimm wie vorher. Denn jetzt, wo es keinen übernatürlichen Hintergrund mehr gibt, kann ich nachdenken, ist es fast wie Mathematik. Und Mathe ist beherrschbar, darin bin ich gut. Also, was haben wir bis jetzt?
Ich sehe dich immer noch. Ich sehe dich überall
, stand auf dem Laptop. Jetzt einmal das Hysterische abgezogen und davon ausgegangen, dass das nicht der Geist von Justins Mutter war, der das getippt hat, dann ist diese Nachricht noch die bedrohlichste. Denn schließlich stimmt sie: Wer immer sie auch geschrieben hat, konnte mich auch sehen, als ich auf Annis Party war. Und damit scheidet Justin wohl aus. Aber, und das ist der unangenehme Teil der Wahrheit, das würde bedeuten, dass es jemand aus der Clique gewesen sein muss. Vielleicht Konrad? Er steht auf Felix. Ist eindeutig eifersüchtig.
Ich weiß, wo du wohnst.
Der Schreiber oder die Schreiberin will mir damit vielleicht sagen, dass er oder sie meine Lügen
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