Zwischen Ewig und Jetzt
schwitzten im überhitzten Klassenzimmer. Eine Fliege brummte träge durch die Luft. Es roch schon nach dem zukünftigen Sommer. Den Sommer am Baggersee, den ich kannte, in unserer Eisdiele, bei Wiebkes Pferd, unter den Apfelbäumen in Elkes Garten, mit Heidi im Freibad, in der Stadt mit Karolin. »Schaufenster angucken« hatte mit ihr genau die Bedeutung gehabt: Sie konnte sich selten etwas leisten. Also sahen wir uns nur um, kauften nichts. Malten uns aus, was wir alles haben würden, sobald wir alt genug wären, alt und reich. Karolin wollte immer verreisen: Die Angebote der Reisebüros waren für sie der Höhepunkt unserer Ausflüge. Ich richtete mich damals schon ein, bestückte mein Traumhaus mit meinem Traummann, meinen Traummöbeln. Und meinen Freundinnen. Wir würden noch Freundinnen sein, wenn wir alt und runzelig wären: Dessen war ich mir immer sicher gewesen.
Wir waren unzertrennlich. Die ultimative Clique.
Bis es vorbei war. Mit einem Mal hat man keine Freunde mehr. Mit einem Mal ist man allein.
Es ist heiß geworden im Klassenzimmer: Der Sommer hat sich also doch noch dazu aufgerafft, mal vorbeizuschauen. Die Fenster unseres Klassenraums sind offen. Irgendwo dort draußen mäht jemand den Rasen. Ich schwitze, Miriam neben mir schwitzt auch: Ich kann es riechen. Sie ist nicht gerade zugänglicher geworden, seitdem die Clique mich links liegen lässt, und ich kann es ihr nicht verübeln: Als es mir gut ging, als ich »in« war, habe ich mich auch nicht gerade rührend um sie gekümmert. Musste ich ja nicht.
Bei dem Riesenkrach mit Felix ging es zunächst um Anni und die Berlinreise. Wie er mir verschweigen konnte, dass er vor mir mit Anni zusammengewesen war. Das allein hätte schon genügt.
Doch dann kam noch alles andere auf den Tisch. Der Streit, der schon lange zwischen uns schwelte, eskalierte. Es ging um meine Lügen: Ich hätte ihm ja schließlich auch nichts erzählt. Wer ich wirklich sei, wo ich wohne, nichts von meinem Vater, den Umständen seines Todes. Und es ging um Niki, natürlich. Um meine »Geisterbesessenheit«. Und um Niki. Um meine Weigerung, nett zu seinen Freunden zu sein, und um Niki. Auf einmal waren es wieder seine Freunde. Das stimmt ja auch: Als Clique sind wir immer lausig gewesen, und inzwischen machte sich keiner von ihnen die Mühe, auch nur zu grüßen.
Irgendwie schaffte er es, dass ich mir wie eine Betrügerin vorkam. Der Kuss fiel mir wieder ein, der Kuss vom Friedhof, aber war das aufzuwiegen mit Felix’ Verrat?
Ich habe ihm seine Kette wiedergegeben und war zwei Tage lang krank.
Als ich wiederkam, hatte sich alles geändert.
Schon als ich die Klasse betrat, konnte ich es spüren. Die vorsichtigen Blicke, die mir auswichen, die Stimmen, die gedämpfter wurden. Schultern, die sich wegdrehten. Inzwischen hat sich auch herumgesprochen, wo ich wirklich wohne: Felix hat es seinen Freunden erzählt, und es ist einem von ihnen wohl rausgerutscht. Ich nehme mal an, es war Konrad. Konrad, der Felix jetzt wieder für sich allein hat.
Ich bin auch nicht allein, ich habe ja noch Niki. Doch je mehr ich mit ihm zusammen bin, je mehr Arbeitsgruppen wir zusammen bilden, Pausen miteinander verbringen, desto größer wird der Abstand zu den Leuten in meiner Klasse. Niki ist ansteckend: Das habe ich schon immer gewusst.
Ich sehe über meine linke Schulter zu Alice, die sich anfänglich sehr bemüht hat um mich und meine Freundin werden wollte. Sie sieht im selben Moment hoch, begegnet meinem Blick. Noch ehe ich Zeit habe zu lächeln, vergräbt sie sich schnell wieder in ihrem Buch.
Ich stehe ganz am Anfang.
3 . Teil
11 . Kapitel
A uf dem Innenhof habe ich ihn gleich gesehen, noch vor allen anderen, und mich sofort verliebt. Er sah ungeheuer gut aus. Trug eine Jeans und einen blauen Kapuzenpulli unter seiner Lederjacke. Unter seiner Mütze sah man seine dunkeln Locken, und er hatte einen Piercingring um die Lippe, links, neben seinem Mundwinkel. Er war ganz allein: Als ob jemand einen Kreis um ihn gezogen hätte. Eine unsichtbare Grenze, die keiner der anderen zu überschreiten wagte. Auch ich nicht. Ich vor allen Dingen nicht.
Und jetzt? Jetzt bin ich mittendrin, bei Niki. In diesem Kreis.
Und nicht nur das: In der Klasse hat sich einiges verändert seit der Sache mit Vanessa. Dem Tag, als Niki den Tod ihres Vaters vorausgesagt hat. Das ängstliche Abstandhalten ist umgeschlagen in Aggressivität. Niki wird angerempelt, Getränke kippen »zufällig« um, ständig
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