Zwischen jetzt und immer
das Gegenteil entscheidend. Ich hatte so viel durchgemacht, mir hohe Ziele gesteckt, war immer wieder gescheitert und hatte erst jetzt – endlich – einen Ort gefunden, wo es genügte, dass ich einfach nur ich selbst war.
Plötzlich wurde mir klar, dass dieses Problem zwischen meiner Mutter und mir schon immer bestanden hatte. Wir
glaubten
, wir würden über dieselben Dinge reden und dasselbe meinen, doch alles hat zwei Bedeutungen. Zumindest kann das so sein. Wie bei einer Münze; am Ende kommt es darauf an, was oben liegt, Kopf oder Zahl.
»Das würde mir auch sehr Leid tun, wirklich«, sagte ich.
»Dann sind wir uns also einig. Das ist schön. Und das war auch schon alles. Ich wollte mir nur sicher sein, dass wir uns einig sind.« Meine Mutter lächelte und drückte im Aufstehen meine Hand – eine typische Geste zwischen uns, wenn eine von uns beiden ihre Zuneigung ausdrücken wollte. Ich stand ebenfalls auf, wollte hoch in mein Zimmer, während meine Mutter in ihr Arbeitszimmer ging. Ich lief bereits die Treppe hoch, da hörte ich, wie sie mich noch einmal rief.
»Schatz?«
Ich wandte mich um. Sie stand an der Tür zum Arbeitszimmer, die Hand am Türgriff.
»Ja?«
»Wirklich, du kannst mit allem zu mir kommen, mit mir über alles reden. Zum Beispiel über so was wie mit Jason. Du kannst mir alles anvertrauen, hörst du? Es ist mir sehr wichtig, dass du das weißt.«
Ich nickte. »Ist gut.«
Ich lief weiter die Treppe hoch. Meine Mutter wandte sich in diesem Moment bereits dem nächsten Problem zu, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Und die Sache mit mir war als erledigt abgehakt. Für mich hingegen war das Ganze nicht so einfach. Natürlich ging sie wie selbstverständlich davon aus, dass ich ihr alles erzählen, alles anvertrauen konnte. Sie war schließlich meine Mutter. Aber um ehrlich zu sein: Ich konnte es eben nicht. Seit über einem Jahr sehnte ich mich danach, offen mit ihr über alles zu reden, was mich quälte. Außerdem hätte ich sie gern in den Arm genommen und ihr gestanden, dass ich mir Sorgen um sie machte. Aber das ging nicht. Deshalb war das, worüber wir gerade gesprochen hatten, nichts als eine Formalität, ein Vertrag, den ich unterschrieben hatte ohne das Kleingedrucktezu lesen. Was ohnehin nicht nötig gewesen wäre, denn ich wusste, was da stand: Bis zu einem gewissen Punkt durfte ich meine – leider allzu menschlichen – Schwächen und Fehler haben, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Und Ehrlichkeit – Ehrlichkeit war strengstens verboten. Ehrlich durfte ich weder zu ihr sein noch zu mir selbst.
Ich betrat mein Zimmer. Mitten auf meinem Bett stand eine Einkaufstüte, an der ein Blatt Papier lehnte. Selbst aus der Entfernung erkannte ich die ausladende Schrift mit den großen Schwüngen und Bögen: Caroline.
Hallo kleine Schwester,
schade, dass wir uns verpasst haben. In ein paar Tagen bin ich wieder da, hoffentlich mit guten Neuigkeiten über die Fortschritte bei der Renovierung. Als ich das letzte Mal bei euch war, vergaß ich, das hier für dich dazulassen. Ich habe es beim Ausmisten in einem der Kleiderschränke im Ferienhaus gefunden. Keine Ahnung, was drin ist (ich wollte es nicht ohne dich aufmachen), aber ich wollte auf jeden Fall dafür sorgen, dass du es so rasch wie möglich bekommst. Bis bald.
Statt einer Unterschrift folgten jede Menge Herzen und Blümchen sowie ein Smiley. Ich setzte mich neben die Tüte aufs Bett, öffnete sie einen Spalt, schaute hinein und machte sie sofort wieder zu.
Nein, bitte nicht, bitte bitte nicht, dachte ich.
Denn schon auf den ersten, flüchtigen Blick hatte ich zweierlei gesehen: Golden gemustertes Geschenkpapier. Und ein weißes Kärtchen, auf dem mein Name stand. In einer Schrift, die ich (wie Carolines) überall auf der Welt auf Anhieb identifiziert hätte. Die Schrift meines Vaters.
Da kommt noch was
, hatte auf der Karte gestanden, die er mir an jenem Weihnachtstag – unserem letzten Tag zusammen – gegeben hatte.
Bald
. Das fehlende Geschenk für mich war also, wie ich vermutet hatte, nichts von
E.I.N.fach-Produkte
, sondern das hier.
Ich wollte die Tüte ein zweites Mal öffnen, hielt jedoch inne. So gern ich das Geschenk auch ausgepackt hätte – jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, denn gleichgültig was sich unter dem goldenen Papier befand: Es wäre eine Enttäuschung gewesen, zumindest in diesem Augenblick. Ich hatte die ganze Zeit auf ein Zeichen
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