Zwischen jetzt und immer
faltete die Hände im Schoß übereinander und beugte sich ein wenig vor. Ich kannte diese Haltung, kannte sie von einer Million Verkaufsveranstaltungen: Sie rückte vor, bereit zum Angriff. »Ich muss leider zugeben, Macy, dass ich mir zurzeit ein wenig Sorgen um dich mache.«
Ich merkte, wie irgendetwas in mir leicht zusammensackte, wie bei einem Luftballon, aus dem schleichend Luft entweicht.
»Sorgen?«
Sie nickte und sah mich forschend an. »In letzter Zeit bist du oft bis spätabends mit deinen neuen Freunden unterwegs. Du jobbst so häufig für diesen Catering-Service, dass ich fürchte, deine Arbeit in der Bibliothek leidet darunter. Doch auf die solltest du dich konzentrieren, schließlich wird sie als praktische Erfahrung auf deinem Abschlusszeugnis mitbewertet.«
»Ich habe in der Bibliothek bisher keinen einzigen Tag gefehlt«, erwiderte ich.
»Ich weiß. Ich möchte doch bloß . . .« Meine Mutter hielt inne und wandte den Kopf zum Fenster, um hinauszuschauen, wodurch nun sie hell von der Sonne beschienen wurde. Sofort fielen mir die feinen Falten um ihre Augen herum auf. Und wie erschöpft sie wirkte! Nicht zum ersten Mal überkam mich ein Anflug von Panik, ob sie sich vielleicht überanstrengte, zu viel zumutete. Bestimmt reagierte ich über, andererseits hatte ich es bei meinem Vater nicht früh genug bemerkt. Keine von uns. »Im kommenden Jahr stellst du Weichen für dein ganzes Leben, sowohl in puncto College als auch insgesamt, was deine Zukunft betrifft. Wie du bei den Aufnahmeprüfungen abschneidest, ist entscheidend für deine akademische und berufliche Laufbahn. Dusolltest dich also unbedingt auf die Schule und deine Vorbereitungskurse konzentrieren. Weißt du noch, wie du mir zu Beginn der Sommerferien selbst gesagt hast, du wolltest dich in diesen Wochen gründlich auf das kommende Schuljahr vorbereiten? Damals hatte ich den Eindruck, dir wäre sehr klar, wie wichtig das ist.«
»Ja«, antwortete ich. »Und daran habe ich mich auch gehalten. Ich habe Vokabeln gelernt, Prüfungsaufgaben durchgearbeitet, Übungstests im Internet gemacht.«
Erneuter Blick durchs Fenster. »Außerdem bist du mittlerweile fast jeden Abend mit deiner Freundin Christine unterwegs . . .«
»Kristy«, warf ich ein.
». . . und nicht nur mit ihr, sondern mit einem ganzen Haufen neuer Freunde, die ich noch nicht einmal kennen gelernt habe, geschweige denn näher kenne.« Sie blickte auf ihre Finger, die sich in ihrem Schoß verschränkten und wieder öffneten, verschränkten und wieder öffneten. »Und dann erfahre ich plötzlich das von dir und Jason und frage mich ernsthaft, warum du es mit keiner Silbe erwähnt hast. Wie bist du bloß auf die Idee gekommen, mir nichts davon erzählen zu können?«
»Es ist bloß eine Beziehungs
pause
«, wiederholte ich wie ein Papagei. »Außerdem hat Jason nichts mit meinen eigenen Plänen und Zielen zu tun, das sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Wirklich?«, fragte meine Mutter. »Wenn Jason da ist, verbringst du viel mehr Zeit daheim, lernst mehr, arbeitest konzentriert für die Schule. Doch mittlerweile sehe ich dich kaum noch zu Hause. Tut mir Leid, aber ich habe das Gefühl, das eine hängt durchaus mit dem anderen zusammen.«
Dem konnte ich nicht widersprechen. In den letzten Wochen hatte ich mich tatsächlich verändert, wobei ich die Veränderung allerdings als Verbesserung empfand: Endlich, ganz langsam, ließ ich die Vergangenheit hinter mir und befreite mich aus dem Käfig, den ich vor vielen Monaten sorgsam um mich herum aufgebaut hatte. Das war eine positive Entwicklung, oder etwa nicht? Zumindest hatte ich das bis zu diesem Moment geglaubt.
»Macy, ich möchte doch nur eins.« Ihre Stimme klang sanfter als vorher. »Ich möchte sicher sein, dass du weißt, worauf es wirklich ankommt. Wo du deine Prioritäten zu setzen hast. Du hast dich bisher so angestrengt, es täte mir sehr Leid für dich, wenn das alles umsonst gewesen wäre.«
Damit war ich im Prinzip einverstanden. Allerdings meinte meine Mutter etwas ganz anderes als ich. Sie bezog sich darauf, wie sehr ich mich bemüht hatte, perfekt zu werden, gute Zensuren zu bekommen, mir einen intelligenten Freund zu angeln und meine Trauer über den Verlust meines Vaters durch eiserne Disziplin und Selbstbeherrschung zu überwinden, bis zumindest nach außen hin alles in Ordnung schien. Immer hübsch nach dem Motto: Ja, natürlich geht’s mir gut, kein Problem, alles okay. Für mich dagegen war genau
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